Wally, die Zweiflerin by Karl Gutzkow

Wally, die Zweiflerin by Karl Gutzkow

Autor:Karl Gutzkow [Gutzkow, Karl]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 3150099048
Herausgeber: Reclam
veröffentlicht: 1978-12-31T23:00:00+00:00


7

[70] Drei Wochen hindurch war der Wächter: Bewußtsein vom Tore der Vernunft verschwunden. Die Gedanken Wallys waren freigegeben, das Dach stand offen, jedes Auge konnte in das glühende Hirn hineinsehen und die Verwirrung der Ideen mit seinen Blicken verfolgen. Da lagen sie alle, die wie ein Kapital angelegten Eindrücke der Vergangenheit, ohne die lachenden, fröhlichen Zinsen des Umgangs und des Bewußtseins zu tragen; nackte Leiber, die des bunten Gewandes der Rede ermangelten, Ideenembryone, so gräulich anzusehen wie die Infusorien, die man durch Vergrößerungsgläser in einem Wasserglase unterscheidet. Die Erinnerungen, Ideen und Ideenschatten jagten sich untereinander und gingen wahnwitzig lächerliche Bundsgenossenschaften ein und fraßen sich untereinander auf wie Ungetüme, denen die Gestalt, die Schönheit, die Freiheit des Willens und das Wort fehlt. So lag Wally drei Wochen.

Als sie zum ersten Male die Augen mit Bewußtsein aufschlug, erblickte sie Auroren und fragte nach allem, was seither geschehen wäre. Diese junge berlinische Schwätzerin schlug die Hände zusammen, setzte sich die Mütze der Verwunderung auf und hatte viel von Wallys fieberhaften Phantasiestücken zu er zählen. Wally fühlte sich stark zu hören, auch stark, sich zu erinnern. Sie wußte deutlich, wer die Schuld ihres Übels trug; sie ging auch bald wieder bei diesem Gedanken in die Nebel zurück und sprach von einem Manne, der sie gerettet, aber nicht besucht hatte.

Aurora sprach von Jeronimo. Sie schilderte seine Verzweiflung. Er hielte sich für den Urheber von Wallys Leiden, er verließe das Haus nicht und würde durch nichts aufgehalten, Augenblicke, wo Wally schliefe, zu benutzen und in ihr Zimmer zu dringen.

»Wer?« fragte Wally.

»Jeronimo!«[70]

Es gehörte noch Anstrengung dazu, daß Wally wieder wußte, warum sie nach Jeronimo gefragt hatte. Sie vergaß es und räumte Aurorens Schwatzhaftigkeit das Feld. Diese tummelte sich weidlich darauf. Sie kam immer wieder auf den Italiener zurück, bis er selbst kam und an Wallys Bett niederkniete. Wally sahe ihn, aber sie erkannte ihn nicht.

Jeronimo stand bleich und hager da. Seine Wangen waren eingefallen und abgezehrt. Die Augen blickten starr und mit einem unheimlichen Feuer. Sein Äußeres war gänzlich vernachlässigt. Hätte man nicht annehmen müssen, daß ihn die Trauer verhinderte, Sorgfalt auf sich zu verwenden, so würde man zu dem Glauben gezwungen gewesen sein, seine Erscheinung sei die Folge der Armut. Er sprach italienisch; Aurora verstand nichts davon, zu seinem Glücke; denn hätte sie es verstanden, wie würde es ihr entgangen sein, daß Jeronimos Reden einen bedenklichen Geisteszustand verrieten?

Wally verstand wohl die wahnwitzigen Worte an ihrem Bett, aber sie wußte nicht, von wem sie kamen. Und hätte sie es gewußt, so würde sie sogleich auf den Zustand reflektiert haben, den sie soeben von sich selbst erfahren hatte. In der Tat, sie verwechselte auch den Wahnsinn, den sie hörte, mit dem, welcher sie selbst beherrschte, und flehte unhörbar, ihr nichts zuzurechnen von der Verwirrung, die aus ihrem bewußtlosen Haupte entsprang. Jeronimo küßte ihre Hand. Sie erkannte ihn nicht, als er wie ein Gespenst von ihrem Lager fortschlich.

Benutzen wir den Augenblick, wo der Faden unsrer Erzählung gehemmt ist durch das Schicksal ihrer Heldin, die sonderbare Erscheinung Jeronimos und das Verhältnis zu seinem Bruder näher zu erklären.



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