Timm Thaler by James Krüss
Autor:James Krüss [Krüss, James]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2006-12-12T07:15:25+00:00
Zwanzigster Bogen
Klarheit in Athen
In Athen, der alten Hauptstadt Griechenlands, hatte die größte
Zweiggesellschaft der Baron-Lefuet-Gesellschaft ihren Sitz.
Vielleicht war der Baron hier deshalb so ungemein lebhaft und
liebenswürdig. Er verschonte Timm hier auch, so gut es ging, mit
Direktoren und Banketts. Stattdessen wanderte er mit dem Jungen zu Fuß durch die Straßen. Allerdings folgte ihnen in angemessener
Entfernung ein Auto, das auf einen Wink Lefuets jederzeit an den
Bordstein fahren konnte, um sie aufzunehmen.
Der Baron führte Timm nicht zu den Stätten, deretwegen die
meisten Fremden nach Athen kommen. Er erstieg mit ihm nicht die
Akropolis, zwischen deren Tempelsäulen man das heitere Blau des
Ägäischen Meeres leuchten sieht; er führte ihn nicht zu den
marmornen Statuen, die von den Grübchen im Knöchel bis zu den
Kringeln in den Mundwinkeln voll himmlischen Gelächters stecken;
er zeigte ihm nicht, wie hell der Himmel über weißen Tempeln
strahlt. Er führte ihn vielmehr zum Markt von Athen.
„Von dem Geld, das hier verdient wird, geht wenigstens die
Hälfte durch meine Hände“, sagte er. „Als mein Erbe, Herr Thaler, müssen Sie wissen, wo unser Reichtum gemacht wird. Ist es nicht
eine Lust, diese Farben zu sehen?“
Lefuet hatte Timm zuerst in die Straßen der Fische geführt.
Glotzäugig und zuweilen mit leuchtenden roten Streifen unter den
Kiemen, lagen die Fische zu Tausenden in großen offenen
Eisschränken. Der Reichtum des Meeres war üppig ausgebreitet. Da
glitzerte viel Silber und stählernes Blau, und dazwischen sah man Streifen und Flecken gellenden Rots und matten Schwarzes. Der
Baron sah dies; alles mit den Augen des Händlers an.
„Der Thunfisch kommt von den Türken“, erklärte er. „Wir kaufen
ihn billig ein. Der Stockfisch kommt aus Island. Er ist unser bestes Geschäft. Barboni, Tintenfische und Sardellen kommen aus Italien
oder von den griechischen Fischern. Daran ist nicht viel zu
verdienen. Aber kommen Sie weiter, Herr Thaler, kommen Sie,
kommen Sie!“
Lefuet war wie berauscht auf diesem Markt. Sie standen jetzt vor
einer Kalkwand, an der geschlachtete, abgezogene Schafe hingen,
die Zungen seitwärts aus dem Maul gestreckt.
„Diese Schafe kommen aus Venezuela“, sagte der Baron. „Und
die Schweine dort haben wir in Jugoslawien gekauft. Ein gutes
Geschäft.“
„Kommt eigentlich außer den Fischen auch etwas aus
Griechenland?“ fragte Timm.
„O ja“, lachte Lefuet, „einiges kommt auch aus dem Lande:
Korinthen, Wein, Bananen, Kuchen, Olivenöl, Granatäpfel, Wolle,
Stoffe, Feigen, Nüsse, Auberginen und Bauxit.“
Lefuet hatte die Aufzählung so feierlich gesprochen, als sei es das Geschlechtsregister des Königs David aus der Bibel. Er war mit
Timm inzwischen in die Käsestraße geraten, in der viel weißer Käse ausgebreitet lag. Der ganze Spaziergang war ein Stoßen und
Schieben zwischen schreienden Verkäufern und laut handelnden
Kunden. Bei den Fischen wafen sie durch Pfützen gewatet, in denen Zwiebelringe schwammen; bei den Schafen waren sie genötigt
gewesen, Blutlachen zu umgehen; und als sie zwischen die
Obststände gerieten, war der Boden von Schalen glatt.
Vor Timm streiften drei Buben herum und stahlen unter den
Augen der Menge eingelegte Oliven. Niemand nahm Anstoß daran,
nicht einmal die Verkäufer, die nur böse und kurz aufbellten, um ihre Aufmerksamkeit sofort danach wieder zahlungsfähigen Kunden
zuzuwenden. Die kleinen Diebe lachten.
Verwirrt und erschöpft verließ Timm nach geschlagenen zwei
Stunden diesen Alptraum eines Marktes, dieses Prahlen, Schreien
und Drängen, das den Baron so entzückte, diesen Riesenbauch einer Stadt mit ungeheurem Appetit.
Auf ein Zeichen des Barons kam das Auto vorgefahren. Diesmal
hatte es nur vier Türen und schwarze Polster.
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