Tante Jolesch by Friedrich Torberg

Tante Jolesch by Friedrich Torberg

Autor:Friedrich Torberg [Torberg, Friedrich]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2011-12-03T05:00:00+00:00


KAFFEEHAUS IST ÜBERALL

Vom Kaffeehaus war schon so oft und ausgiebig die Rede, daß es sich fast erübrigt, ihm ein eigenes Kapitel zu widmen. Im Grunde ist ja dieses ganze Buch ein Buch vom Kaffeehaus. Kaum eine der auftretenden Personen wäre ohne das Kaffeehaus denkbar. Kaum eine der von ihnen handelnden Geschichten, auch wenn sie anderswo spielen, wäre ohne das Kaffeehaus entstanden. Kaum einer der hier verzeichneten Aussprüche wäre getan worden, wenn es das Kaffeehaus nicht gegeben hätte. Für die auftretenden Personen war es der Nährboden, aus dem sie ihre geheimen Lebenssäfte sogen. Den von ihnen handelnden Geschichten lieferte es die Atmosphäre wohin auch immer, lieferte es Rückendeckung und Resonanz und, kurzum, den geistigen Raum.{4} Und ihre Aussprüche waren von einer im Kaffeehaus entwickelten Diktion und Denkungsart geprägt. Selbst die erhabene Gestalt der Tante Jolesch, die niemals in einem Kaffeehaus gesichtet wurde, hat etwas von ihm abbekommen. Man könnte freilich auch sagen, daß das Kaffeehaus etwas von der Tante Jolesch abbekommen hat, daß sie das missing link zwischen talmudischer Ghettotradition und emanzipierter Kaffeehauskultur war, sozusagen die Stammutter all derer, die im Kaffeehaus den Katalysator und Brennpunkt ihres Daseins gefunden hatten, ob sie's wußten oder nicht, ob sie's wollten oder nicht.

Manche — und nicht die schlechtesten — wollten es nicht. Zu den beinahe untrüglichen Merkmalen eines Stammgastes gehörte die Behauptung, keiner zu sein (was mit gleicher Beharrlichkeit sonst nur Betrunkene von sich behaupten). Ernst Polak, eine der Säulen des Café Herrenhof, aus Prag gebürtig, in erster Ehe mit Kafkas Milena verheiratet, Literaturkenner von hohen Graden und weithin als kritische Instanz anerkannt, versäumte es nie, sein allnachmittägliches Erscheinen am Stammtisch mit der Mitteilung einzuleiten, daß er nur ausnahmsweise gekommen sei und gleich wieder gehen müsse, weil er seine Zeit nicht mit unnützem Herumsitzen und Herumreden vergeuden wolle. Er blieb dann meistens bis zur Sperrstunde, deren Ankündigung durch den Oberkellner Albert ihm ein entsetztes »Was — schon?!« entlockte. Berichten seiner Haushälterin zufolge erwachte er für gewöhnlich mit dem Seufzer: »Großer Gott — schon wieder ein Tag vorbei...« (Das verweist auf einen verwandten Ausspruch Friedrich Karinthys, des einzigen ungarischen Schriftstellers, der als würdiger Zeit- und Artgenosse Franz Molnárs anzusehen ist: »Was kann schon aus einem Tag werden, der damit beginnt, daß man aufstehen muß!«)

Polak blieb seinen Freunden Hermann Broch, Franz Werfel, Willy Haas und anderen auch in der Emigration ein wertvoller Berater. Er starb während des Kriegs in London. Es war ihm nicht mehr vergönnt, noch ein Mal ausnahmsweise im Café Herrenhof zu erscheinen.

Daß auch Dr. Justinian Frisch — im Kapitel »Sommerfrische« bereits vorgestellt — nicht als Stammgast zu gelten wünschte, wurde mir aus eigener Erfahrung und zum eigenen Leidwesen inne, als der Verlag Fischer, damals noch in Stockholm, 1947 das Erscheinen meines in New

York entstandenen Romans »Hier bin ich, mein Vater« vorbereitete. Der erste Brief, den idi nach Ablieferung des Manuskripts aus Stockholm bekam, trug die Unterschrift »für die Herstellung: Dr. Frisch«. Und da ich keinerlei Anhaltspunkte dafür besaß, daß es sich um den mir bekannten Justinian handelte — ich hatte seit der Annektion



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