Stillleben by Hans Christoph Buch

Stillleben by Hans Christoph Buch

Autor:Hans Christoph Buch [Buch, Hans Christoph]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Frankfurter Verlagsanstalt
veröffentlicht: 2018-02-21T00:00:00+00:00


ETWAS WIRD SICHTBAR

Meine Geschichte beginnt und endet in Ouro Preto, der alten Kulturstadt Brasiliens im Bundesstaat Minas Gerais, wo ich, in einem Straßencafé sitzend, Caipirinha schlürfe oder Caipiroska, vielleicht ist es auch Antarctica oder Brahma-Bier, und ins Gespräch komme mit einem Cineasten, der das Handwerk des Filmemachens bei Harun Farocki gelernt hat und wissen will, ob ich dem Filmemacher in Berlin persönlich begegnet bin? Aber hallo – und ob ich ihn kenne! Harun ist ein Uralt-Freund von mir, wir haben Drehbücher geschrieben, Filme gedreht und Fußball gespielt. Aber als ich zu einer längeren Antwort ansetze, fällt der Cineast mir ins Wort und erzählt, wie er bei einem Workshop des Goethe-Instituts in São Paulo Harun Farocki begegnet ist. Der habe ihm eine Videokamera in die Hand gedrückt und ihn aufgefordert, einen Arbeitsvorgang zu filmen von maximal fünf Minuten Länge, und das Ergebnis, ungeschnitten und unkommentiert, einzuspeisen in ein weltumspannendes Filmprojekt mit dem Titel Eine Einstellung zur Arbeit. Die Sache erschien mir abwegig, ich verstand nur Bahnhof, und erst Jahre später, als das Haus der Kulturen der Welt die mit Filmen gekoppelte Werkschau Eine Einstellung zur Arbeit zeigte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und ich begriff, was für eine geniale Idee, genial in ihrer Einfachheit, Harun Farocki, anknüpfend an Experimente der Gebrüder Lumière, hier verwirklicht hatte. Oder war es Méliès, ein Pionier des Kinos, der sich mit laufender Kamera an einem Fabriktor postierte, um in einer einzigen, überlangen Einstellung zu filmen, wie ein nicht abreißender Strom von Menschen stoßend und schiebend das Gebäude verlässt. Arbeiter verlassen die Fabrik heißt der flirrende Filmstreifen, der aus der Frühgeschichte des Kinos nicht wegzudenken ist. Aber ich will die Geschichte von Anfang an erzählen.

*

Es muss im Sommer 1964 gewesen sein, als der Münchner Filmregisseur Peter Fleischmann Harun Farocki und mich beauftragte, ein Drehbuch zu schreiben über Bernhard Kimmel, der Ende der fünfziger Jahre in Rheinland-Pfalz eine Serie von Banküberfällen verübt hatte und die Polizei an der Nase herumführte, bevor er den Fahndern ins Netz ging und eine lebenslange Haftstrafe verbüßte. AL CAPONE VON DER PFALZ nannten die Medien den Bandenchef, der nach eigener Aussage nicht von dem Gangsterkönig aus Chicago, sondern von Schinderhannes, dem romantischen Räuberhauptmann, zu seinen Taten inspiriert worden war. Der Stoff enthielt alle Ingredienzen eines sozialkritischen Heimatfilms, wie Fleischmann ihn, gestützt auf Martin Sperrs Drama Jagdszenen in Niederbayern, später drehte: Im Wald vergrabene Waffen aus dem Zweiten Weltkrieg, mit denen Kimmel Schießübungen macht; tollpatschige Polizisten, unter die der Gesuchte sich einreiht, um sich an der Großfahndung zu beteiligen; ein Kriminalrat, der seines Amtes enthoben wird, weil er Massenerschießungen jüdischer Geiseln befahl, eine Gangsterbraut namens Revolver-Tilly u. a. m. Alle notwendigen Ingredienzen sind hier versammelt, aber Harun Farocki und ich waren unfähig oder einfach nur ungeeignet, ein Drehbuch daraus zu machen. Schon auf der Fahrt von Berlin nach München in meinem zerbeulten VW redeten wir gezielt aneinander vorbei: Harun schwärmte von Godards Film La Chinoise, während ich mich auf Robert Walser und Kafka berief, die mich mehr interessierten als das zur Pflichtübung verkommene antifaschistische Engagement.



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