Scott-Kings moderne Welt by Waugh Evelyn
Autor:Waugh, Evelyn [Waugh, Evelyn]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257603538
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-01-13T05:00:00+00:00
[65] III
Simona steht in Sichtweite des Mittelmeers auf den Ausläufern des großen Gebirgsmassivs, das die halbe Landkarte Neutraliens ausfüllt. Walnuss- und Korkeichen-, Mandel- und Limonenhaine umschließen die Stadt und wachsen bis an ihre Mauern heran, die von einer Reihe schroffer Wehrtürme unterbrochen sind; eine genial angelegte Festung aus dem siebzehnten Jahrhundert, die in einer langen Geschichte von Kriegen und Raubzügen noch nie ihre Bewährungsprobe bestehen musste, da sie kaum etwas von militärischer Bedeutung schützt. Die mittelalterliche Universität, die barocke Kathedrale, zwanzig Kirchen, in deren zierlichen Kalksteintürmen Störche nisten und sich fortpflanzen, ein Rokokoplatz, ein paar verwahrloste kleine Paläste, ein Marktplatz und eine Geschäftsstraße – das ist schon alles, was man darin findet, und eigentlich auch alles, was des Menschen Herz begehren kann. Die Eisenbahn führt weit an der Stadt vorbei und verrät ihre [66] Gegenwart nur durch gelegentliche weiße Dampfwölkchen zwischen den Baumwipfeln.
Zur Stund des Angelus saßen Scott-King und Dr. Bogdan Antonic an einem Cafétischchen auf der Festungsmauer.
»Ich nehme an, Bellorius muss auf nahezu die gleiche Szene geblickt haben wie wir heute.«
»Ja, die Bauwerke zumindest verändern sich nicht. Es herrscht auch noch immer die Illusion von Frieden, während die Berge hinter uns, genau wie zu Bellorius’ Zeit, ein einziges Brigantennest sind.«
»Ich erinnere mich, dass er darauf anspielt, im achten Gesang, aber heute?…«
»Es ist immer noch dasselbe. Sie nennen sich jetzt nur anders – Partisanen, Widerstandskämpfer, Unversöhnliche, was Sie wollen. Die Folgen sind die gleichen. Auf vielen Straßen braucht man Polizeischutz.«
Sie verstummten. Während der umständlichen Fahrt nach Simona war zwischen Scott-King und dem internationalen Sekretär Sympathie aufgekommen.
Von den sonnenbeschienenen Türmen der zwanzig im Schatten liegenden Kirchen ertönte süßer Glockenklang.
Endlich sagte Scott-King: »Eigentlich habe ich [67] ja den Verdacht, dass Sie und ich die Einzigen in unserer Gruppe sind, die Bellorius überhaupt gelesen haben.«
»Ich kenne ihn selbst sehr wenig. Aber soviel ich weiß, hat Mr. Fu in volkstümlichem Kantonesisch sehr einfühlsam über ihn geschrieben. Finden Sie, dass diese Feier ein Erfolg ist, Professor?«
»Ich bin eigentlich gar kein Professor.«
»Nein, aber für diese Gelegenheit ist hier jeder ein Professor. Und Sie sind mehr Professor als so mancher andere hier. Ich musste mein Netz sehr weit auswerfen, um aus jedem Land eine Vertretung zu bekommen. Mr. Jungman ist zum Beispiel bloß ein Gynäkologe aus Den Haag, und Miss Bombaum ist Gott weiß was. Der Argentinier und der Peruaner sind Studenten und nur ganz zufällig gerade im Lande. Ich sage Ihnen das alles, weil ich Ihnen vertraue und das Gefühl habe, dass Sie sowieso schon einen Verdacht in die Richtung haben. Oder ist Ihnen ein gewisses Element der Täuschung verborgen geblieben?«
»Nein, das nicht.«
»Es ist der Wunsch des Ministeriums, dessen Kulturberater ich bin. Die wollten in diesem Sommer unbedingt etwas feiern. Da habe ich in den Archiven nach einem Jahrestag gesucht. Ich war schon ganz verzweifelt, als ich zufällig auf den Namen [68] Bellorius stieß. Natürlich hatten die noch nie von ihm gehört, aber bei Goethe oder Dante wären sie genauso ahnungslos gewesen. Ich habe ihnen erzählt«, sagte Antonic mit traurig-verschlagenem, überaus kultiviertem Lächeln, »er sei eine der größten Gestalten der europäischen Literatur gewesen.
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