Sammlung der Leidenschaften by Natalka Sniadanko
Autor:Natalka Sniadanko
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Haymon
veröffentlicht: 2016-02-16T00:00:00+00:00
Das andere Geschlecht, eine andere Mentalität und einige nützliche Bemerkungen dazu, wie man sich die Grundlagen der Pedanterie aneignen kann
Dass ich mit meiner neuen Umgebung das groÃe Los gezogen hatte, war mir sofort klar. Schwer zu sagen, was genau sich meine künftige âAu-pair-Familieâ unter âSprachbeherrschung mittleres Anfängerniveauâ vorgestellt hatte, wie es auf dem Fragebogen, den meine Germanistik-Freundin für mich ausgefüllt hatte, hieà â eins muss man ihnen lassen: Sie bewiesen Geduld mit mir.
In den ersten Tagen kam mein âmittleres Anfängerniveauâ im Wesentlichen darin zum Ausdruck, dass ich zum Beispiel einen Apfel in die Hand nahm und Frau Lachapelle eifrig die Worte âder Apfelâ nachsprach. Dann tauschte ich den Apfel gegen eine Birne, echote eifrig âdie Birneâ und schnappte mir, damit sie mich nicht für komplett bekloppt hielten, eine Banane und verkündete strahlend: âeine Bananeâ. Die Zwillinge, die diese fesselnde Vorstellung beobachtet hatten, versuchten es mir nachzutun. âLessjaâ, sprachen sie ihrer Mutter nach und zeigten mit dem Finger auf mich. âLessja nicht verstehnâ, erklärten sie den Nachbarn oder den Verkäufern im Laden, wenn ich Schwierigkeiten hatte, die Sprachbarriere zu überwinden.
Die ersten zwei Wochen verbrachte ich damit, mich mit den Gegenständen meiner nächsten Umgebung vertraut zu machen: âdas Bettâ, âdie Lampeâ, âder Tischâ. Am liebsten hätte ich all diese Gegenstände mit kleinen Namenszettelchen versehen, wie es seinerzeit Jack London getan hatte, der in der Zeit seines intensiven Selbststudiums kleine Schildchen mit philosophischen, literaturwissenschaftlichen und anderen gelehrten Termini in seiner Wohnung aufgehängt hatte. Die Wörter, die ihm dank dieser Technik ständig unter die Augen kamen, konnte er sich am besten merken. So waren auch die Helden von Márquezâ âHundert Jahre Einsamkeitâ vorgegangen, die versuchten, die Namen der Gegenstände zu behalten, welche infolge einer geheimnisvollen Krankheit unerbittlich aus ihrem Gedächtnis entschwanden.
Anfangs wirkte die Kommunikation zwischen mir und Frau Lachapelle ein wenig ritualisiert. Jeden Morgen, nachdem Lisa in die Schule gefahren worden war (deutsche Eltern bringen ihre Kinder mit dem Auto in die Schule, in den Kindergarten, zum Sportverein oder zum Zeichenkurs und holen sie auch wieder ab, selbst wenn sich die Schule, der Kindergarten, der Kurs oder der Verein zwei StraÃen weiter befindet. Viele Kinder, darunter auch Lisa, müssen deswegen früher aufstehen und aus dem Haus gehen, als wenn sie zu Fuà gehen würden, da es auf dem Weg oft zu Staus kommt. Diese Tradition erklärt man mit dem Schutz der Kinder vor sexuellen Triebtätern), also, jeden Morgen, wenn wir zu zweit zurückgeblieben waren, setzten Frau Lachapelle und ich uns im Wohnzimmer auf den Teppich, und während wir uns mein dunkelbraunes âDeutsch-ukrainisches/Ukrainisch-deutschesâ Wörterbuch hin- und herreichten, entspannen sich zwischen uns etwas schwerfällige, mitunter auch auÃerordentlich stockende, reichlich mit übertriebener Gestik und Mimik gewürzte Dialoge.
Das erste Gespräch war dem Tagesplan gewidmet, nach dem Familie Lachapelle lebte und von nun an auch ich leben würde â so gut ich es vermochte. An meine Zimmertür war ein Blatt mit einem am Computer ausgedruckten âTagesablaufâ gepinnt, und jedes Mal, wenn ich erst um 07.35 Uhr zum Frühstück herunterkam oder um 15.15 Uhr statt um 15.00 Uhr von meinem Nachmittagsspaziergang zurückkehrte, blickte Frau Lachapelle wortlos, aber vielsagend auf die Uhr.
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