Rolltreppe abwärts by Hans-Georg Noack

Rolltreppe abwärts by Hans-Georg Noack

Autor:Hans-Georg Noack
Die sprache: de
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2011-12-30T14:14:30+00:00


7

Sie standen stumm hinter ihren Stühlen wie an jedem anderen Morgen, waren aufgestanden, als man sie geweckt hatte, waren gemeinsam in einer Reihe in den Waschraum gezogen, die Handtücher um den Hals gehängt, hatten sich unter wachsamen Augen gewaschen, abgetrocknet, die Zähne geputzt, die Zahnbürsten ausgespült und die Bürsten in die farbigen Plastikbecher zurückgestellt, daß die Borsten alle in die gleiche Richtung wiesen; sie hatten ihre Betten hergerichtet, daß die Kopfkissen aussahen, als wären Bretter darin verarbeitet, hatten einen Blick in die Schränke geworfen, um sich zu vergewissern, daß alles die vorgeschriebene, gleichbleibende Ordnung hatte: die großen Wäschestücke unten, die kleinen oben, nach innen hin zu einer genau senkrechten Kante geschichtet, die Schuhe ganz unten, Spitzen nach vorn, am Vorabend geputzt, der Sonntagsanzug mit einer Cellophanhülle überzogen; sie hatten an den Fußenden ihrer Betten gestanden, als Herr Hamel seinen Stubendurchgang hielt; auf sein Kopfnicken hin hatten sie die Hände nebeneinander in Gürtelhöhe vor sich gehalten, damit der Erzieher die Fingernägel begutachten konnte; die eingeteilten Tischdienste hatten den Kaffee, das Brot, die Margarine und die Marmelade aus der Küche geholt, die Tische gedeckt; Herr Hamel hatte sich mit einem Rundblick bestätigt, was er ohnehin wußte, daß nämlich alles genauso geschehen war wie an jedem Tag. Der Kakteenwart hatte die Kakteen begossen, der Fischwart hatte Wasserflöhe in das Aquarium gestreut.

Nun standen sie stumm hinter ihren Stühlen, beide Hände auf den Stuhllehnen, und sahen ihren Erzieher an.

»Boxer betet!«

Schweigen.

Ein verwunderter Blick, dann noch einmal: »Boxer betet!« Es klang schon schärfer, ziemlich drohend.

Jochen schwieg, und die Gesichter der anderen spannten sich. Es sah aus, als zögen die Jungen die Köpfe tiefer zwischen die Schultern, wie man es bei einem plötzlichen Gewitterguß oder bei einem drohenden Schlag tut.

»Hast du mich nicht verstanden, Boxer? Du sollst das Tischgebet sprechen!« Die Stimme war jetzt scharf, sie war eine erprobte Waffe, die immer dann eingesetzt wurde, wenn es Widerstand zu brechen galt.

Einen Augenblick zögerte Jochen noch, doch er spürte, daß die anderen Jungen, die nicht wagten, den Kopf nach ihm zu drehen, ihn aus den Augenwinkeln beobachteten, daß sie gespannt waren, ob er gestern abend nur große Sprüche machen wollte, oder ob er wirklich wagte, das zu tun, was er angekündigt hatte. Tat er es, so hatte er es mit Hammel endgültig verdorben, daran gab es keinen Zweifel. Tat er es nicht, dann galt er bei den anderen als großmäuliger Feigling, das war ebenso sicher. Und so schluckte Jochen noch einmal, und dann sagte er klar und deutlich: »Wau wau!«

Sekundenlang war alles still. Dann war ein Kichern zu hören, das der Schreck schnell wieder erstickte.

»Ich habe wohl nicht richtig gehört?« fragte Herr Hamel. »Was war das eben?«

»Wau wau wau!« wiederholte Jochen, und jetzt klang es feindselig, gereizt, angriffslustig, und es war ein Signal, das den anderen Mut einflößte. Sven fiel als erster ein mit einem wütenden Gekläff. Pudel bellte, Cocker winselte, Pinscher keifte, Dogge dröhnte, Windhund jaulte, und die anderen stimmten ein. Es war ein Höllenlärm, war das Toben eines Zwingers voller wütender Hunde. Und dabei standen die Jungen still hinter ihren Stühlen, die Hände auf den Lehnen.



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