Noch wach? by Benjamin von Stuckrad-Barre

Noch wach? by Benjamin von Stuckrad-Barre

Autor:Benjamin von Stuckrad-Barre [Stuckrad-Barre, Benjamin von]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
Herausgeber: Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Jetzt musste ich doch mal die Schulter wechseln, denn entweder war der Weg bis zu meiner Wohnung länger, als ich das gedacht hatte – oder die Tasche war doch schwerer. Vielleicht war ich auch schwächer geworden in den letzten Monaten, das Sportprogramm hatte ich in Los Angeles – so wie eigentlich alles – ETWAS SCHLEIFEN LASSEN. Nun galt es, die Tasche von der einen auf die andere Schulter zu wuchten, ohne dass Sophia sie mir jetzt doch abnehmen würde. Ich machte das gar nicht mal so ungeschickt, indem ich nämlich die Tasche hinstellte, um uns Zigaretten anzuzünden. Und Sophia hatte ja auch noch den einen Notfall-Joint. Ich war gespannt, wann sie den anrauchen würde – spätestens in meiner Straße schließlich wäre ja Schluss damit. Es war ein komisches, ein ungewohntes Gefühl, man konnte darüber durchaus lachen, wie VERNÜNFTIG und KONSEQUENT nun ausgerechnet ich hier einer diesbezüglich just etwas strauchelnden Person den Weg in die Drogenabstinenz wies. Diese Prozedur war mir ja durchaus vertraut, nur meistens eben aus der anderen Perspektive. Doch so lief es nun mal, das war ja auch das Prinzip Selbsthilfegruppe: Die wirkliche Expertise und die gangbare NIEDRIGSCHWELLIGKEIT waren eben automatisch gegeben durch eine Person, die den ganzen Scheiß am eigenen Leib mehrfach erlebt hatte. Das ersparte beiden viel Gerede. Sophia rauchte auch eine Zigarette, nicht den Joint, der klemmte noch immer hinter ihrem Ohr, vermutete ich, sehen konnte ich ihn aktuell nicht, denn ihre Haare waren nun wieder urwüchsig lockig, ah, na klar, die Befreiung. Sie betrachtete das an einem Baum befestigte laminierte Foto eines Kindes: ein Mordfall und damit verbunden die Suche der Kriminalpolizei nach Zeugen. Sophia schüttelte den Kopf.

Weißt du, was mich immer stört? Wirklich jedes Mal, wenn ein Kind ermordet wird, heißt es hinterher: Es sei ein SO GLÜCKLICHES, FRÖHLICHES Kind gewesen. Das kann aber gar nicht sein. So viele glückliche Kinder gibt es gar nicht. Also, meine Kindheit jedenfalls war scheiße, richtig düster. Deine auch?

Na ja, joah – also eigentlich ja. War nicht schön, nee.

Eben.



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