Mein bester letzter Sommer by Freytag Anne

Autor:Freytag, Anne
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Heyne Verlag
veröffentlicht: 2015-12-07T12:27:46+00:00

Nichts auslassen

Heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens. Ich gehe auf meine letzte Reise, und in Gedanken bin ich schon dort. Ich spüre den Sand unter meinen nackten Fußsohlen und den warmen Wind auf meiner Haut. Ich rieche das salzige Meerwasser und Sonnenmilch. Neulich habe ich irgendwo die Frage gelesen, wann man das letzte Mal etwas zum ersten Mal getan hat und heute lautet die Antwort: heute. In diesem Moment tue ich etwas zum ersten Mal. Ich lasse mich treiben. Ich packe die letzten Dinge in meine Tasche und überlege, was ich dringender brauche: eine zweite Strickjacke oder die Jeans und entscheide mich für die Jacke. Dreißig Dinge. Ich dachte wirklich, das wäre viel, aber allein mein Duschbeutel hat die Hälfte verschlungen.

O-kay. Habe ich an alles gedacht? Ich habe mein Portemonnaie samt Ausweis, das Geld und meine Tabletten. Den Italien-Reiseführer, den meine Mutter mir gegeben hat, die Kopfhörer, das Ladekabel und mein Handy. Ja, ich glaube, ich habe alles. Zumindest alles, was wichtig ist. Ich habe sogar an die Sonnenmilch gedacht, obwohl Hautkrebs wohl eher nicht mehr mein Problem werden wird. Sonnenbrand will ich trotzdem keinen. Ich mache den Reißverschluss zu und denke bei dem Geräusch kurz an Oskar. Und natürlich erscheint sofort wieder seine halb nackte Version in meinem Kopf und grinst mich frech an. Nicht jetzt.

Ich bücke mich, atme tief ein und will den Rucksack vom Boden hochhieven. Es ist peinlich, aber meine Streichholzarme sind inzwischen sogar von diesem Gewicht überfordert. Wenn man es genau nimmt, sind sie nicht viel mehr als Zierde. Für normale Arme mit normalen Muskeln wäre das kein Problem, für mich ist es eine Herausforderung. Ich starte einen zweiten Versuch, bei dem ich prompt den Bücherstapel neben mir umstoße. Eines bleibt offen liegen, weil es alt ist und sein Rücken gebrochen. Normalerweise schreibe ich nicht in Bücher, aber dieses ist eine Ausnahme – in jeder Hinsicht. Ich hebe es auf und betrachte die Markierung, die ich einmal gemacht habe. Mein Herz zieht sich zusammen. When I saw you, I fell in love and you smiled because you knew. Das letzte Mal, als ich diese Zeilen gelesen habe, war ich mir sicher, dass ich so eine Liebe niemals erleben würde. Eine tragisch-schöne Shakespeare-würdige Liebe. Jetzt habe ich sie. Wer weiß, vielleicht würden wir ihn sogar inspirieren?

Mein Blick fällt auf den Wecker. Oh! Schon 13:33 Uhr. Ich schlage schnell das Buch zu, lege es auf mein Nachtkästchen und werfe mir die Handtasche über die Schulter. Dann greife ich nach den Trägern meines Rucksacks und schleife ihn unbeholfen über den Fußboden bis in den Flur. Bevor ich die Tür schließe, schaue ich mich noch einmal um.

Es ist komisch zu gehen, wenn man nicht weiß, ob man wiederkommt. Dieses Zimmer ist wie ein Freund für mich. Es hat mich mein ganzes Leben lang begleitet. Und egal, wie dreckig es mir ging, es war immer da. Hier habe ich mich am geborgensten gefühlt. Es hat sich mit mir verändert, wurde vom typischen Mädchenzimmer zum Jugendzimmer. Ich atme tief ein und lächle.

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