Marcel Reich-Ranicki (1920 - 2013) by SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG

Marcel Reich-Ranicki (1920 - 2013) by SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG

Autor:SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG [SPIEGEL E-Books]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG
veröffentlicht: 2015-02-26T00:00:00+00:00


Reich-Ranicki: Ja, ich widme der Liebe in der Literatur viel Platz. Das geht auf einen einfachen Umstand zurück: Die Liebe ist das zentrale Thema der deutschen Literatur - von Walther von der Vogelweide bis zu Ingeborg Bachmann und Sarah Kirsch. Zu den größten Erotikern der europäischen Literatur gehören zwei deutsche Autoren: Goethe und Heine. Gut beraten ist der Lehrer, der immer wieder auf Erotisches eingeht. Und ich hätte Sympathie für einen Deutschlehrer, der plötzlich, jeden Kanon ignorierend, seine Schüler beispielsweise Nabokovs „Lolita“ lesen lässt oder Tschechows Erzählung „Die Dame mit dem Hündchen“.

SPIEGEL: Und was ist mit den typischen deutschen Nachkriegsautoren, mit denen Sie sich als Kritiker zeitlebens beschäftigt haben - bleibt davon für Ihren Kanon nichts übrig?

Reich-Ranicki: Ja, hier muss man sehr vorsichtig sein - und da bleibt in der Tat nur wenig. Ich habe viel über große deutsche Schriftsteller der Vergangenheit geschrieben, aber zugleich so gut wie nie die deutsche Literatur der Gegenwart vernachlässigt oder gar ignoriert. Darunter waren nicht wenige gute oder zumindest brauchbare Bücher, die zu Recht viel diskutiert und 10 oder vielleicht sogar 20 Jahre lang so-

gar gelesen wurden. Aber sie haben sich überlebt. Vom literaturhistorischen Standpunkt gesehen, waren es Eintagsfliegen, nützliche Eintagsfliegen - Alfred Kerr hat einen Band seiner gesammelten Kritiken so genannt: „Eintagsfliegen“. Aber es wäre falsch und auch schädlich, wollten wir diese Werke in den Kanon aufnehmen.

SPIEGEL: Welche Romane und Erzählungen waren denn keine Eintagsfliegen?

Reich-Ranicki: Von Wolfgang Koeppen „Tauben im Gras“, von Böll „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“ und zwei kleine Geschichten, etwa: „Der Mann mit den Messern“ und „Wanderer kommst du nach Spa ...“, von Arno Schmidt „Seelandschaft mit Pocahontas“ und „Die Umsiedler“, von Grass „Katz und Maus“ und ausgewählte Kapitel aus der „Blechtrommel“, von Uwe Johnson einige Abschnitte aus den „Mutmassungen über Jakob“, von Thomas Bernhard „Wittgensteins Neffe“ und „Holzfällen“.

SPIEGEL: Wie ist es mit Dürrenmatt bestellt?

Reich-Ranicki: Da ist vieles inzwischen verblasst und verstaubt. Ich glaube, es genügt eine einzige Novelle: „Die Panne“.

SPIEGEL: Und die Prosa von Martin Walser, Peter Handke, Siegfried Lenz, Christa Wolf, Jurek Becker, Botho Strauß, Hans Erich Nossack?

Reich-Ranicki: Das sind natürlich allesamt ehrenwerte Autoren, aber sie gehören doch nicht in einen Kanon für Schulen. Hier zwei Beispiele. Ich habe Christa Wolfs Roman „Nachdenken über Christa T.“ nachdrücklich gelobt - und Martin Walsers Novelle „Ein fliehendes Pferd“ ebenfalls. In beiden Fällen bedauere ich meine nahezu enthusiastischen Urteile keineswegs. Aber seit dem Roman der Wolf sind 33 Jahre vergangen, seit Walsers Novelle immerhin 23 Jahre. Versuchen Sie, diese Bücher heute zu lesen - und Sie werden sehr verwundert sein.

SPIEGEL: Im Falle von Jurek Beckers Lager-Roman „Jakob der Lügner“ sind wir anderer Meinung. Gibt es nicht Bücher, die vielleicht nicht gleich in den Kanon gehören, sich aber hervorragend als Schulstoff eignen?

Reich-Ranicki: Woran denken Sie?



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