Kaffeekochen für Millionen by Mathias Mertens

Kaffeekochen für Millionen by Mathias Mertens

Autor:Mathias Mertens
Format: epub
Herausgeber: Campus Verlag


Franz Kafka hatte natürlich keine Ahnung vom Internet, als er über die Verwandlung des Handlungsreisenden Gregor Samsa in einen riesigen Käfer schrieb. Er wusste aber sehr genau Bescheid über das Verhältnis des einzelnen Menschen zu einer immer technischer und bürokratischer werdenden Gesellschaft. Der Käfer, zu dem Gregor Samsa wird, lässt sich auch als Metapher lesen für die Entfremdung, die sich einstellt, wenn man sich einem ökonomischen System unterwirft, das immer mehr Zugriff auf die eigene Person erhält und immer stärker die Handlungsmöglichkeiten kontrolliert. Was Mahir Cagri im November 1999 widerfuhr, hat damit sehr große Ähnlichkeit. Aus dem Gefühl heraus, sich mit dem neuen Medium Internet beschäftigen zu müssen, hatte er wie Hunderttausende andere auch eine krude private Homepage ins Netz gestellt, auf der er einige Fotos und ein paar belanglose Informationen präsentierte. Auch seine Telefonnummer war dort zu finden, wie es sich für eine Visitenkarte gehört, als die zum damaligen Zeitpunkt Homepages noch verstanden wurden. Man wollte ja nur die paar Menschen erreichen, die sich für einen interessierten, und wer sollte das schon sein außer Freunden und Bekannten und solchen, die es werden wollten?

Mahir Cagri machte diese freundschaftliche Geste allerdings in einem System, dessen Ausmaß und Eigendynamik er nicht abschätzen konnte: dem Internet. »[M]anchmal geschehen [dort] kleine Wunder«, erklärte Spiegel Online, »als beschlösse ein Gott der Gemeinheit, sich seine Opfer heute mal in den Werbeagenturen dieser Erde zu suchen [...] – und irgendeine komische Webseite ist vor lauter plötzlichen Page Impressions kaum noch aufrecht zu erhalten.«133 Denn statt mit viel Geld, komplizierter Marktanalyse und geballter Kreativkompetenz einem Produkt zu großer Aufmerksamkeit |97|zu verhelfen, fiel Mahir Cagris Homepage gerade durch die Abwesenheit von jeglicher Öffentlichkeitsarbeits- und Design-Kompetenz auf. Mit zwei Millionen Besuchern Mitte November 1999 wurde sie zu einem unerwarteten Erfolg und Mahir Cagri zum ersten »Popstar des Internet«, wie Janko Röttgers meinte.134

Aber was war so besonders an dieser Seite, fragte sich Janelle Brown in einem Artikel für Salon. War es »Mahirs ehrliches Bedürfnis, neue Freunde im Ausland zu gewinnen (besonders solche des weiblichen Geschlechts)«? Oder seine »unbändige Freude am Leben«, mit der er sich auf Ping-Pong und Akkordeon stürzte und die ihn »völlig ungeniert am Strand in einer winzigen Badehose liegen« ließ? »Oder vielleicht [war] es bloß sein gewinnendes Wesen: Großgewachsen, schlank, im schimmernden Anzug, schnurrbärtig und mit der wahrscheinlich ausladendsten Nase seit Cyrano de Bergerac?«135 Wahrscheinlich alles auf einmal, und zusammen mit der Unbeholfenheit des Web-Designs entstand daraus die naive Extravaganz, aufgrund der man die Seite als Camp wahrnehmen konnte, wie zuvor die Trojan-Room-Coffee-Machine. Man konnte Mahir Cagri nicht ernst nehmen, obwohl er sich ernst gab, aber was da aus seiner »unbezähmbaren, unkontrollierbaren Erlebnisweise«136 resultierte konnte gut in Anführungsstriche gesetzt und gefeiert werden.

Das allein hätte jedoch nicht genügt. Denn im Gegensatz zur Trojan-Room-Coffee-Machine, die relativ einsam ihren »campy« Charme verströmen konnte, gab es 1999 bereits Tausende von privaten Homepages, die Mahir Cagris »I Kiss You!!!!!«-Seite in Nichts nachstanden, wenn es um Unbeholfenheit und ahnungsloses Grafik-Design ging. Man konnte nicht sagen, dass eine dieser Seiten schlechter war als die anderen und deshalb besondere Aufmerksamkeit auf sich zog.



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