Explodierende Zahnplomben und vergiftete Pralinen by Winfried Köppelle

Explodierende Zahnplomben und vergiftete Pralinen by Winfried Köppelle

Autor:Winfried Köppelle
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783662583326
Herausgeber: Springer Berlin Heidelberg


Die berühmte Taq-Polymerase

Ausgereift ist die Technologie 1985 noch nicht. Was fehlt, ist das methodische Sahnehäubchen auf der PCR-Torte: eine DNA-Polymerase, die hohe Temperaturen verträgt und nicht jedes Mal nachpipettiert werden muss, nachdem der Reaktionsmix auf zerstörerische 95 °C erhitzt wurde. Die Polymerase-Kettenreaktion erfüllt somit zwar ihren Zweck, wäre aber als massenhaft eingesetzte Routinemethode viel zu umständlich und teuer.

Was nun?

Es ist erneut Randall Saiki, der den entscheidenden nächsten Schritt geht. Er testet erfolgreich ein hitzestabiles Enzym: die berühmte Taq-Polymerase. Sie entstammt Bakterien der Art Thermus aquaticus, die sich in Geysiren bei 70 °C pudelwohl fühlen. Selbst noch höhere Temperaturen machen dieser famosen Polymerase nichts aus, weshalb sie bei der DNA-Vervielfältigung nicht mehr ständig neu hinzugegeben werden muss. Im Jahr 1988 erscheint im Fachmagazin Science das erste PCR-Paper, das die erfolgreiche Verwendung der Taq-Polymerase dokumentiert. Diese wegweisende Publikation, wieder mit Saiki als Erstautor, bleibt über Jahre hinweg die meistzitierte der gesamten Biologie und verhilft der Polymerase-Kettenreaktion zum weltweiten Durchbruch. Wo immer seitdem DNA-Abschnitte mittels PCR vervielfältigt werden – ob bei Vaterschaftstests oder der Diagnose von Erbkrankheiten und Virusinfektionen – wird der legendäre, sechsseitige Fachartikel „Saiki et al. 1988“ als Referenz angeführt.

Wenig überraschend taucht Mullis auch hier nur als zweitrangiger Zuarbeiter in der Liste der Autoren auf. Kurz darauf, 1986, verlässt er die Cetus Corporation. Nennenswerte Forschungsbeiträge blieben seither aus. Obwohl er noch unzählige Male nach Mendocino fährt, wird er keinen zweiten Geistesblitz mehr erleben.

Doch auch ohne das weitere Zutun ihres Erfinders startet die PCR-Technologie einen Siegeszug sondergleichen durch die analytischen und diagnostischen Labore. Die Polymerase-Kettenreaktion wird rasch zu einer der wichtigsten Technologien des 20. Jahrhunderts. Bald kommen auch die ersten programmierbaren Thermocycler auf den Markt – kompakte Laborautomaten mit einem Heizblock aus Metall, die in der Lage sind, vollautomatisch die Temperaturzyklen der PCR-Prozedur abzuarbeiten. Man pipettiert die Reagenzien zusammen und 90 min später liegen Millionen Kopien der benötigten DNA-Sequenz im Reaktionsgefäß. Grandios.

Mit einem Mal sind Dinge möglich, die bislang als undenkbar galten: die gezielte Veränderung von Genen, präventive Krebsuntersuchungen, der blitzschnelle Nachweis von pathogenen Mikroorganismen und Allergenen in der Lebensmittelanalytik. Die von Mullis erfundene Kettenreaktion schafft es sogar in die Abendnachrichten, als man dem ehemaligen Footballspieler O. J. Simpson 1994 mittels PCR nachweisen kann, dass er seine Ex-Frau und deren Freund brutal ermordet hat, und Simpson dennoch wegen Justizfehlern freigesprochen wird. Das 1990 begonnene Humangenomprojekt, das alle drei Milliarden Basenpaare des menschlichen Erbguts offenlegt, avanciert vor allem dank der blitzschnellen PCR-Vervielfältigung gesuchter DNA-Sequenzen zu einer Erfolgsgeschichte. Und als die Anthropologen des Leipziger Max-Planck-Instituts 2010 verkünden, dass sich im Erbgut heutiger Europäer auch etwas Neandertaler-DNA befinde, haben auch sie diese Erkenntnis hauptsächlich ausgeklügelten PCR-Techniken zu verdanken.

Heute ist die Polymerase-Kettenreaktion im Labor so alltäglich wie Elektropipette und WLAN. Die Medline-Datenbank, das weltweit wichtigste Publikationsverzeichnis für Biowissenschaften und Medizin, enthielt Mitte 2019 eine halbe Million Veröffentlichungen, bei denen die PCR als Schlüsseltechnologie verwendet wurde.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.