Die Netten schlafen allein by Weinert Steffen

Die Netten schlafen allein by Weinert Steffen

Autor:Weinert, Steffen [Weinert, Steffen]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Was dann geschieht, hätte ich niemals für möglich gehalten. Und das muss etwas heißen, denn eigentlich nehme ich für mich in Anspruch, eine gute Menschenkenntnis zu besitzen, besonders dann, wenn es sich bei den besagten Menschen um meine Freunde und deren Lebensgefährtinnen handelt. Doch dieses Selbstverständnis wird mit einem Mal heftig erschüttert.

Kaum sind wir an Doris’ Elternhaus angekommen, springt Hendrik aus dem Wagen, öffnet den Kofferraum und beginnt, seine – wie ich kurz darauf erkenne – Karaoke-Anlage inklusive Lichtorgel im schwiegerelterlichen Garten aufzubauen. Strom holt er sich aus der Garage, und dann geht’s los.

Hendrik stellt sich mitten auf den Rasen und hält sich das Mikro unter die Nase.

«Das ist für dich, mein Schatz, ich hoffe, du kannst mir verzeihen. Playback ab! Zwei, drei!», ruft er und drückt auf «Play».

Sofort erklingen die ersten Takte einer eingängigen, volkstümlichen Melodie, und ich erkenne sofort, um welches Lied es sich handelt: «Liebesbeweis» von den Herzbirnbaumbandlbauerbuam. Doris’ Lieblingslied, wie er mir einmal verraten hat, woraufhin ich mich angewidert abgewendet habe, denn es ist eine der grauenhaftesten Schnulzen, die die Menschheit jemals hervorgebracht hat. Und damals habe ich nur daran gedacht, jetzt wird sie live und in maximaler Lautstärke von einem meiner besten Freunde intoniert. Das ist zu viel für mein empfindliches Nervenkostüm. Ich spüre, wie mir schwindelig wird. Auch Emil bleibt der Mund offen stehen, und seine Ohren beginnen buchstäblich zu schlackern.

«Du hast mein Leben fest im Griff», beginnt Hendrik schwungvoll die erste Strophe, «gibst mir mehr Sicherheit als der TÜV …»

So, und ab da bekomme ich vor lauter Stress einen Hörsturz. Vielen Dank auch, Hendrik. Das hätte es nun wirklich nicht gebraucht.

Das Gute an der Sache: Das Pfeifen in meinem Ohr ist so laut, dass ich die Gesangseinlage nur noch sehr gedämpft höre. Dafür sehe ich, wie Hendrik alles, aber auch wirklich alles gibt. Seine Augen sind geschlossen, und er singt voller Inbrunst und mit bebender Kehle. Und offenbar mit Erfolg, denn ungefähr in der Mitte des Gassenhauers tritt Doris tatsächlich aus dem Haus. Allerdings kann ich ihren Gesichtsausdruck nicht so recht deuten. Es könnte Rührung sein, aber genauso gut Abscheu.

Den Gesichtsausdruck von Doris’ Eltern hingegen, die mittlerweile auf dem Balkon erschienen sind, kann ich aber sehr wohl deuten: Es ist die pure Be-geis-te-rung! Die beiden rüstigen Rentner geraten regelrecht in Feierlaune, schunkeln, klatschen im Takt und haben ganz offensichtlich the time of their lives.

Angestachelt durch so viel Zuspruch, gibt Hendrik auf den letzten Metern noch mal alles: «Weil i di so liab hob, weil i di so liab hob.»

Und dann ist aus.

Doch was wird nun passieren? Bis jetzt warten alle Beteiligten ab. Keiner will den ersten Schritt machen. Die Sekunden dehnen sich, und langsam, aber sicher schwant mir, dass diese Sache böse enden wird. Ich mache mir schwere Vorwürfe. Warum habe ich ihn nur nicht zurückgehalten? Er ist doch mein Freund! Warum habe ich ihn so ins offene Messer rennen lassen? Ich hätte das Desaster doch vorhersehen müssen! Ogottogottogott!

Aber dann löst sich Doris schließlich doch noch aus ihrer Starre und sagt mit tränenerstickter Stimme: «Das ist das Schönste, was jemals jemand für mich gemacht hat.



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