Die Ferien des Monsieur Mahé: Ausgewählte Romane (German Edition) by Simenon Georges
Autor:Simenon, Georges [Simenon, Georges]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Kriminalliteratur
ISBN: 9783257604962
Herausgeber: Diogenes Verlag AG
veröffentlicht: 2013-12-17T23:00:00+00:00
5
Ein Brief von Péchade
Glocken. Viele Glocken, die in einen Himmel fielen wie in ein Meer und hallende Wellenkreise schlugen. Die Kreise liefen auseinander, stießen aneinander, überlappten sich, und dann begannen die Glocken anmutig wie Delphine mit ihren Kapriolen wieder von vorne.
Er runzelte die Stirn und sagte sich:
›Da muss eine Feier sein…‹
Eine Beerdigung? Eine Hochzeit? Er konnte sich einfach nicht erinnern, aber musste unbedingt dahin. Er lief schnell. Seine Mutter kam hinterher und trieb ihn an.
»Beeil dich, François«, mahnte sie, offenbar ohne zu merken, dass er splitternackt war.
Und fügte noch einen seltsamen Satz hinzu:
»Du wirst noch alle Hochzeiten verpassen!«
Welche Hochzeiten hatte sie da gemeint? Seine eigenen oder solche, zu denen er eingeladen war?
Er war bestürzt. Seine Hand, die über seine Brust strich, entdeckte, dass er tatsächlich nackt war. Die Sonne stach ihm durch die Lider. Er lag im Bett. Er erkannte, wo er war, das Eisenbett, das ans Fenster gezogen worden war, damit die Kinderbetten näher beim Bett der Mutter standen. Das Fenster war offen. Luft und Sonne drangen durch die schrägen Spalten der Jalousien herein, überliefen ihn und das Bett. Auch Schweiß lief an ihm hinunter.
Er runzelte die Stirn, weil er wusste, dass irgendetwas Unangenehmes bevorstand. Eine erste Entdeckung immerhin: Das mit den Glocken hatte nichts zu bedeuten, es war bloß Sonntag. Er hatte vergessen, dass Sonntag war.
Aber warum wurde in Mariettes fensterlosem Raum geflüstert? Er spitzte die Ohren, ohne die Augen aufzuschlagen, und erkannte die Stimme Hélènes.
»Beeil dich, Jeanne, sonst kommen wir deinetwegen noch zu spät zur Messe… Mariette, hilf ihr die Schuhe zuzubinden… Es ist jeden Tag dasselbe mit ihr, sie ist einfach zu träge…«
Und das alles in gedämpftem Ton wie in einer Sakristei.
»Michel! Mach nicht so viel Krach, du weckst sonst deinen Vater auf…«
Um ihn nicht zu wecken, hatte man alle Sachen mit in Mariettes Kammer genommen und wusch auch die Kinder dort. Sie würden auf Zehenspitzen durchs Zimmer schleichen müssen. Es lohnte sich nicht, die Augen aufzuschlagen, im Gegenteil.
Es passierte ihm sonst nie, ganz nackt zu schlafen. Er spürte sein fettes und weiches Fleisch unter der Hand und war davon ein bisschen schockiert. Dennoch war es sehr angenehm. Im Hereinkommen hatte er es noch geschafft, sich auszuziehen, aber seinen Schlafanzug nicht gefunden oder ihn vielleicht auch nicht mehr anziehen können. Hatte er Licht gemacht? Hoffentlich nicht. Er wusste es nicht mehr. Hoffentlich war er nicht bei voller Beleuchtung splitternackt herumgetappt, zwischen den querstehenden Betten hindurch, wo zum Beispiel seine Tochter Jeanne hätte aufwachen können!
»Dein Messbuch, Jeanne… Deine Handschuhe…«
Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Hélène schob die Kinder vor sich her. Sie hatten ihre neuen Schuhe angezogen, deren Sohlen noch knarrten, und sie rochen nach Lavendelseife. Ob sie ihn beim Vorbeischleichen ansahen?
»Macht schon…«
Mariette kam hinterher. Er erkannte sie an ihrem Duft. Denn sie hatte einen leichten Eigengeruch, ganz anders als seine Frau.
Was hatte er übers Heiraten geträumt? Das war nur ein paar Augenblicke zuvor, und doch war er außerstande, sich daran zu erinnern. Dagegen ging ihm eine Wahrheit auf, so leuchtend wie das Fenster, unter dem er lag, eine Wahrheit, die er nicht gesucht hatte, die er nie geahnt hatte.
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