Die Fantome des Hutmachers: Ausgewählte Romane (German Edition) by Simenon Georges

Die Fantome des Hutmachers: Ausgewählte Romane (German Edition) by Simenon Georges

Autor:Simenon, Georges [Simenon, Georges]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Kriminalliteratur
ISBN: 9783257604993
Herausgeber: Diogenes Verlag AG
veröffentlicht: 2013-12-17T23:00:00+00:00


6

Er machte alles wie sonst, vergaß nichts. Aber es kam immer häufiger vor, dass er reglos stehen blieb, wie in Trance, dass er erst mit unruhigem, dann mit schmerzverzerrtem Gesicht um sich blickte. Seine Stirn legte sich in Falten. Einmal hatte Valentin ihm beistehen wollen und teilnehmend gefragt:

»Haben Sie etwas vergessen?«

Monsieur Labbé hatte ihn angesehen, als käme er von einem anderen Planeten, und hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihm zu antworten. Er hatte kaum mit den Achseln gezuckt. Sekunden später funktionierte er wieder normal. Er wusste wieder, was er tun musste, und war nach hinten zum Wandschrank gegangen – demjenigen, der immer abgeschlossen war –, um an der Schnur zu ziehen.

Am Dienstagmorgen war er blass, er machte ein verstörtes Gesicht, seine Augenlider waren gerötet. Es war ihm schon lange nicht mehr passiert, dass er so viel getrunken hatte wie am Vorabend. Sein Kopf war leer, und seine Finger hatten beim Rasieren gezittert.

Das Verrückteste aber war, dass nicht er, sondern der kleine Schneider wirklich krank war. Aber doch wohl nicht ernstlich? Monsieur Labbé war sich nicht ganz sicher. Aus winzigen Veränderungen im Tagesablauf erriet er, dass im Haus gegenüber etwas Ungewöhnliches vorging. Zum einen war Madame Kachoudas an diesem Tag zuerst aufgestanden. Und dann war Esther viel früher als gewöhnlich fertig angezogen aus der Küche gekommen.

Es ist eigenartig zu sehen, wie schnell ein Haushalt, sobald die Gepflogenheiten gestört sind, chaotisch und wie aus den Fugen geraten wirkt. Das Mädchen war hinuntergegangen, hatte eine ganze Weile gebraucht, bis sie den Riegel der Ladentür zurückgeschoben hatte, und war dann auf dem Bürgersteig davongegangen.

Die Pflastersteine waren an diesem Morgen von einer glatten Rauhreifschicht überzogen. Wieso hatte Monsieur Labbé sofort gewusst, dass sie zum Apotheker ging? Wahrscheinlich, weil nur Krankheit oder Tod Menschen wie Kachoudas daran hindern konnten, auf ihrem Posten zu sein.

Seine Frau drängte die Kleinen, die beim Anziehen herumtrödelten, zur Eile, damit sie rechtzeitig in die Schule kamen. Esther lief inzwischen wohl von Apotheke zu Apotheke, bis sie eine fand, die schon aufhatte. Als sie zurückkam, trug sie ein Päckchen in der Hand, und als sie die Treppe hinaufging, erschien Kachoudas trotz aller Einwände seiner Frau in der Werkstatt. Er war in Pantoffeln, hatte sein Nachthemd, über dem er eine alte Jacke und das schwarze Umschlagtuch seiner Frau trug, in eine alte Hose gestopft. Man sah ihm an, dass er Fieber hatte, und aus der Art und Weise, wie er sprach, wurde selbst über die Straße hinweg deutlich, dass er kaum einen Ton herausbrachte.

Drüben packten sie die Medikamente aus der Apotheke aus. Esther gab langatmige Erklärungen ab. Madame Kachoudas steckte ihrem Mann das Thermometer in den Mund, das ihre Tochter gerade gebracht hatte, und entzifferte mühsam die Dosierungsangaben auf einer Flasche und einer Schachtel. Man half dem Kranken in seinen Mantel, nicht etwa, weil er ausgehen wollte, sondern weil er trotz des Feuers im Ofen zu schlottern begann.

Alle drei machten ernste Gesichter, als sie das Thermometer ansahen. Sie beratschlagten, was zu tun sei. Sicher machte eine der Frauen den Vorschlag, den Arzt zu rufen, doch Kachoudas lehnte energisch ab.



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