Die Akten des Vogelsangs by Raabe Wilhelm

Die Akten des Vogelsangs by Raabe Wilhelm

Autor:Raabe, Wilhelm
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: (Privatkopie)
veröffentlicht: 2010-02-03T05:00:00+00:00


Ich habe sie häufig in meinem Berufe zu suchen, die Verschollenen in der Welt; sie zu einem bestimmten Termin zu zitieren und sie, wenn sie nicht erscheinen, für tot zu erklären und ihren Nachlaß den Erben oder dem Fiskus zu überantworten. Meistens ist es armes, kümmerliches Volk, das so verlorengeht und gesucht werden muß, doch von Zeit zu Zeit ist da auch einer oder eine verschollen, auf deren Wege auch den abgehärtetsten Beamten die Phantasie und das Bedürfnis des Menschen, Wunder, wenn nicht an sich, so doch an anderen zu erleben, unwiderstehlich nachlockt.

Das ist nun bei meinem Freund Velten Andres nicht im mindesten der Fall gewesen. Von Mysterien und Romantik habe ich nicht das geringste zu notieren. Er ist stets mit uns in Korrespondenz geblieben, hat alle Verkehrswege via Southampton, Bremen und Hamburg, ja auch den unterseeischen Telegraphen benutzt, um in möglichster Verbindung mit dem Vogelsang zu bleiben. Ich bin eben in seinem Leben über nichts im Dunkel geblieben als – über ihn selber. Das war aber ja nicht seine Schuld! Diese lag hier nur an mir, und solches ist öfters der Fall, als die Leute glauben.

Schreibe ich übrigens denn nicht auch jetzt nur deshalb diese Blätter voll, weil ich doch mein möglichstes tun möchte, um mir über diesen Menschen, einen der mir bekanntesten meiner Daseinsgenossen, klarzuwerden? Aber es ist immer, als ob man Fäden aus einem Gobelinteppich zupfe und sie unter das Vergrößerungsglas bringe, um die hohe Kunst, die der Meister an das ganze Gewebe gewendet hat, daraus kennenzulernen.

Wenn je ein Mensch für das Leben unter allen Formen und Bedingungen ausgerüstet war, wenn je einer das Seinige dazu getan hatte, sich seine Schutz- und Angriffswaffen zu schmieden, so war das Velten Andres. Mit allen den Vorzügen und Tugenden begabt, die Ophelia aufzählt und von denen der dänische Prinz so schlechten Gebrauch machte, ging er wahrlich nicht von »Wittenberg« nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika und später seines Weges weiter.

Man hat einen guten Ausdruck dafür, wenn einem das mühelos, oder anscheinend mühelos, zufällt, um was andere sich sehr quälen müssen. »Es fliegt ihm an«, sagt man und beneidet den Glücklichen, zuckt auch wohl bedenklich die Achseln dabei und zieht »im ganzen ein solides Sitzfleisch doch vor«. Letzteres hat auch seine Vorzüge und nimmt seinen gebührenden Platz später im Lehnstuhl am warmen Ofen oder in der Julisonne fröstelnd, aber behaglich mit vollstem Recht ein. Er, mein Freund, ist in seinem kurzen Leben alles gewesen: Gelehrter, Kaufmann, Luftschiffer, Soldat, Schiffsmann, Zeitungsschreiber – aber gebracht hat er es nach bürgerlichen Begriffen zu nichts, und ich kann es auch nicht zu diesen Akten beibringen, daß er sich je um etwas anderes richtige Mühe gegeben habe als um das kleine Mädchen aus dem Vogelsang, die heutige Witwe Mungo aus Chikago. –



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