Der Pfiff um die Ecke : Zweiundzwanzig Kriminalgeschichten by Walter Serner

Der Pfiff um die Ecke : Zweiundzwanzig Kriminalgeschichten by Walter Serner

Autor:Walter Serner [Serner, Walter]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Erzählungen
ISBN: 3423017414
Herausgeber: dtv
veröffentlicht: 1981-12-31T23:00:00+00:00


Bukarest – Budapest

Der Wiener D-Zug hatte seit etwa zwanzig Minuten Bukarest hinter sich, als Schingut den Toilettenraum verließ und seinen mit einer Reisemütze belegten, in einem Abteil zweiter Klasse befindlichen Mittelplatz einnahm. Hierauf zog er eine Zeitung aus der Tasche und tat, als lese er, um unbeobachtet die Mitreisenden mustern zu können. Links von ihm saß eine weißhaarige Dame, die unausgesetzt an einem gelben Stift roch; rechts von ihm ein halbwüchsiger Gymnasiast, der Kants ›Praktische Vernunft‹ mit persönlichen Randbemerkungen versah. Deshalb hielt Schinguts erfahrenes Auge nur den ihm gegenüber sitzenden Herrn seiner Aufmerksamkeit für würdig. Dessen hellgrünen Waterproof, der glatt zusammengerollt im Netz lag, erkannte Schingut als echte Londoner Marke, Wäsche und Krawatte von allererster Qualität, desgleichen den dunkelgrauen Sakko, der schwerlich älter war als acht Tage. Nur das feiste Gesicht war für Schingut ein Rebus: es war kugelrund, ockerrot, glattrasiert und im höchsten Grade nichtssagend, welchen Effekt sonderlich die kleinen lichtlosen Augen bewirkten und die kurze Stupsnase. Selbst nach wieder und wieder unternommenen Musterungen mußte Schingut sich eingestehen, daß er weder die Nationalität noch den Beruf seines Gegenübers zu fixieren imstande war. Das war ihm seit Jahren nicht mehr widerfahren. Und da er allen Grund hatte, seine Reise mit größter Vorsicht auszuführen, nahm er sich augenblicks vor, sein beunruhigendes Vis-à-vis zu untersuchen.

Als dessen Blick das nächste Mal dem seinen begegnete, sagte Schingut deshalb laut, wenn auch durchaus wie absichtslos: »Eine sehr gute Strecke! Wie ruhig der Wagen geht!«

»Ja. Sie haben recht.«

Schingut schwieg, die Zeitung neben sich legend, und blickte zum Fenster hinaus. Er rechnete auf den suggestiven Zwang, der von einem hingeworfenen Satz, dem nichts weiter folgt, ausgeht.

Und er hatte richtig gerechnet. Der Herr wartete bloß auf Schinguts Blick, dem er, als er eintraf, zulächelte. »Sie fahren auch bis Budapest?«

Schingut, der einen leichten slawischen Akzent konstatiert hatte, nickte, obwohl sein Reiseziel Brünn war. »Gefällt es Ihnen?«

»O, sehr. Ein kleines Paris. Sie sind wohl von dort?«

»Nein. Ich war noch nie in Budapest.«

Der Herr wiegte erstaunt den Kopf. »Ich hätte gewettet, daß Sie in Budapest geboren sind.«

Schingut war, obwohl er es völlig zu verbergen wußte, fast verblüfft: er war tatsächlich aus Budapest gebürtig. »Weshalb?« fragte er leise.

»Ihr Deutsch hat jenen breiten und singenden Tonfall. Sehr schwach. Aber es ist doch zu merken.«

Schingut schmunzelte höflich. »Sie beobachten sehr scharf.« Innerlich aber grinste er: er war drei Monate alt gewesen, als seine Eltern ihn nach Mailand verkauft hatten, und hatte seither Ungarn nie wieder gesehen.

»Keine besondere Leistung. Man muß eben darauf achten. Und da ich selbst Budapester bin . . . Barany ist mein Name.«

»Schingut.«

»Angenehm.« Barany verneigte sich abermals.

Schingut desgleichen. Da er aber bereits überzeugt war, daß sein Gegenüber ebenfalls log und auch in der Absicht, sich zu orientieren, legte er sich gewissermaßen auf die Lauer.

»Also Sie sind trotzdem nicht aus Budapest.« Barany lächelte wie einer, der sich herbeiläßt, mit einem Lügner noch weiter zu reden.

Schingut hißte eine gewisse verlegene Bedachtlosigkeit. »Habe ich denn behauptet, daß ich aus Budapest bin?«

»Aber gewiß nicht.« Barany blickte fröhlich auf die Deckenlampe. »Habe ich denn das behauptet?«

»Aber keineswegs.



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