Der Erpresser by Simenon Georges

Der Erpresser by Simenon Georges

Autor:Simenon, Georges [Simenon, Georges]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


6

Erhoffte er sich wirklich etwas? Es war nicht so klar und größtenteils unbewußt. Was denn erhoffen? Im Haus war schon wieder alles, wie es immer gewesen war. Die Mädchen kamen eines nach dem andern ungekämmt und in schmuddeligen Morgenröcken die Treppe herunter, jeder aß für sich; oft setzte man sich nicht einmal hin, sondern holte sich den Milchkaffee oder den Kakao direkt vom Herd: man wärmte sich mit noch verschlafenen Augen und beobachtete den Regen, der so dicht auf die Scheiben prasselte, daß man sich in dieser Küche wie unter einem Fluß Vorkommen konnte.

Camille hatte ihren Vater zwei- oder dreimal beobachtet. Sie hatte ihn betont freundlich gegrüßt, um ihm die Rückkehr auf seinen Posten zu erleichtern. Sie war ganz gewiß ein braves Mädchen. Andererseits liebte er gerade sie am wenigsten.

In einen schwarzen Ölmantel gehüllt und mit Gummistiefeln war sie als erste in die Sintflut hinaus, um rechtzeitig um acht Uhr ihre Arbeit bei der Korsettnäherin zu beginnen. Zu dem Zeitpunkt war Lulu noch beim Waschen. Mauricette, die gerade erst aufgewacht war, rief von der Treppe oben, daß man ihre Milch anbrennen ließ. Und Laurence wartete gelassen, bis dieses morgendliche Gewimmel vorbei war: nachher, wenn das Haus leer war, würde sie sich ganz allein hinsetzen, die Ellbogen auf den Tisch stützen, Butterbrot in ihren Milchkaffee tunken und beim Zeitungslesen ganz langsam essen.

Charles wartete wirklich geduldig bis zur letzten Minute. Er wußte, daß Lulu fertig war. Man konnte sogar fast den Eindruck gewinnen, daß es sie verwirrte, ihn immer noch da zu sehen. Also zog er seinen Mantel an, zog Gummigaloschen über die Schuhe und nahm seinen Schirm.

Der Regen fiel im Dämmerlicht so dicht, daß er mehr als zehn Zentimeter hoch vom Pflaster abprallte und daraus Gebilde entstanden und wieder zerplatzten, die wie Blüten aus Fadenglas aussahen. Der Bahnwärter trug einen Regenmantel mit Kapuze, der bis zum Boden herunterhing. Von der Plattform der Straßenbahn floß das Wasser in Rinnen ab.

Zwei- oder dreimal wandte Charles sich um. Aber nein! Die braune Tür seines Hauses blieb zu. Er ging den Gehsteig entlang. Und alle, die so wie er aus den Vororten zu ihrer Arbeit strebten und zuerst nur sehr vereinzelt auf den Straßen gingen, bildeten allmählich, je mehr sie sich der Brücke näherten, eine Art Prozession. Die Oberfläche der Seine war durch den Wasserschleier kaum zu sehen. Fahrräder fuhren vorüber, schwarze Rücken, verchromte Lenkstangen; die Fahrradfahrer ließen ihre schrillen Klingeln ertönen und fuhren ganz eng an Straßenbahnen und Fuhrwerken vorbei. Lulu ging mit anderen vorüber, ohne ihren Vater zu sehen.

An solchen Vormittagen glich das große Gebäude der Firma Dionnet in der Nässe, die an die offene See erinnerte, mehr noch als sonst einem Frachtschiff. Um halb acht hatte der alte Poupin, der gleichzeitig als Portier und als Nachtwächter diente und dazu die Pferde versorgte, das große Tor geöffnet, und die Rollkutscher waren hereingekommen, hatten angespannt, die Lageristen hatten angefangen, die Fässer und Tonnen auf die zementierten Rampen zu rollen.

Die Lagerhallen waren riesig wie der Laderaum von Schiffen, bis zur Decke voll und mit Schildern versehen, auf denen stand: »Rauchen verboten« und »Seid gut zu den Tieren«.



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