Der Atem by Heinrich Mann

Der Atem by Heinrich Mann

Autor:Heinrich Mann [Mann, Heinrich]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
Herausgeber: Aufbau-Verlag Berlin und Weima
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Reinen Herzens

Als sie auch diesmal erwachte, war es dunkel geworden. Auf dem Kamin die Uhr schlug sechs. Schwach weiß schimmerte die Büste der Hetäre Thais, die sich in eine Eremitin verwandeln wird. »Auch sie«, denkt jemand, während dieses Zimmer stumm bleibt, vergessen von der ganzen Welt. »Um drei wurde ich erwartet; jetzt nicht mehr; vielleicht auch warteten sie niemals im Ernst, trotz allem, was wir zu bereden hätten. Es führt zu nichts. Das ist es. Frédéric spricht zu Estelle: Deine beste Freundin kommt, mit uns zu beraten. Sie denkt: Es führt zu nichts. Dasselbe denkt er selbst, obwohl ihm das Herz klopft, davon, daß ich seine Geliebte bin. Aber es führt zu nichts.«

Hier verstummte sogar ihr Gedanke. Sie erlebte nochmals die Stunde mit ihm, ließ sie über sich ergehen, ohne davon zu wissen, da sie nicht dachte. Lydia erstaunte, als sie sich wiederfand in diesem Sessel, derselben Dämmerung. »Das Glück«, sprach sie in ihre Einsamkeit. »Aktiv und wirklich ist es am äußersten Rand – der Dinge und unseres Tages. Wir haben es dahin, mitsamt den unterbliebenen Vorsätzen. Der gegenseitige Besitz ist ungeschehen, geschah gleichwohl, angenommen, die Verabredung wäre eingehalten. Drei Uhr, ich trete bei ihm ein, Estelle ist fort, wohin? Mais je sais bien qu’elle est avec Monsieur Laplace. Elle n’avait qu’à s’écouter. C’est une ambitieuse. De plus, elle rachète ma vie, c’est le prix de son abandon. Da haben wir, gewissenlos, einander angehört.«

Aber die Erinnerung ist bekanntlich erfunden. Seine Geliebte wird sie erst in seinen künftigen Erinnerungen sein, eine gehorsame Tote, die auf Anruf erscheint. War dennoch niemals die Seine. Sowenig Estelle ein verräterisches Rätsel. Sie und Laplace – »als ob sie sich herabgelassen hätte, für ihn zu töten, wen? Mich.« Man tue nur wieder den ersten, ergriffenen Blick in ihr reines Angesicht. Man achte die Unschuld ihres Bildnisses. »Nicht sie, ich selbst habe ihr Gesicht verändert. Den Wesen, die uns stören, drückt man eine Maske auf. Oh! das Glück, wie es mir zustieß, war nicht freundlich, nicht gut.«

Gleichwohl war es das Glück gewesen. Die Einsamkeit, die folgt, ist schwerer zu tragen als die vorher bekannte. In der ungewissen Dämmerung – ungewiß jeder nächste Schritt – ist noch das beste, sich nicht zu rühren. Als an die Tür geklopft wurde, war sie erleichtert, obwohl sie nicht antwortete. Kein zweites Klopfen, die Tür ging auf. »Dunkel bei dir, Kobalt«, wurde vertraulich hereingesprochen. Ein metallener Tenor sprach: sie hat ihn auch sonst gehört; kein sehr seltener Klang, nicht zu verwechseln ist nur die Sprechweise. Die Gestalt, im helleren Rahmen der Öffnung genügend umrissen, hat die mittlere Höhe, etwas mehr Breite, ihre Bewegungen sind entschieden.

»Ich sehe sie doch. Schläft sie denn?« Inzwischen hat er das Licht gefunden, es angedreht, nimmt schon eine Art Anlauf – der steckenbleibt, als der Mann sie erblickt. »Du irrst nicht, ich bin es«, spricht Kobalt. – »Wenigstens ist es deine Stimme, das langt, Kameradin«, sagt der kommunistische Arbeiter Vertugas. Er reicht ihr die Hand, sie nimmt die Hand. »Dich hätte ich erwartet, wenn irgendwen«, sagt sie ihm in die Augen, die hell sind, breite Lider haben und sie anlachen, aber aufmerksam, aber ernst.



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