David Guterson by Ed King

David Guterson by Ed King

Autor:Ed King
Die sprache: de
Format: azw3, epub, mobi
veröffentlicht: 2012-06-19T19:20:38+00:00


7

Der Coup

Diane beschloss, dass ein Neuanfang auch einen Ortswechsel voraussetzte, und zog von Portland nach Seattle. Sie nannte sich nicht mehr Diane Long, sondern war wieder Diane Burroughs. Die Rückkehr zu ihrem alten Namen war mit zahlreichen bürokratischen Hürden verbunden, aber jedes Mal, wenn sie bei einer Behörde vorsprechen, ein Formular ausfüllen, Unterlagen versenden oder ein Dokument beglaubigen lassen musste, fühlte sie sich wie von einer Art Katharsis beflügelt. Der pedantische Papierkram, die Aufstellung ihrer persönlichen Daten ad nauseam, trug zu dieser Reinigung bei. Genau wie die anderen Details der Rückkehr in ein ungebundenes Leben. Diane kaufte sich einen Zweisitzer und entschied sich nach einigen Nachforschungen für Kirkland, einen Vorort von Seattle mit Boutiquen und schönen Ausblicken auf den See, wo sie eine Wohnung in The Palms mietete. Die Aussicht von Apartment 226 gefiel ihr am besten. Man sah von dort auf eine Terrasse voller Liegestühle, den Pool und die »Cabaña«, einen überdachten Bereich für Zusammenkünfte im Freien, ausgestattet mit einem Kühlschrank und einer Spüle. Sie bestellte Möbel, sah sich nach Küchengeschirr um und kaufte sich eine Stereoanlage und einen Fernseher der gehobenen Klasse. Ihr Singledasein einzurichten verschlang einen Großteil des Juni, aber ab Anfang Juli konnte Diane tun, was sie wollte, und das war, am Pool zu sitzen, zu lesen und Evian zu trinken. In dieser kostspieligen Zeit bekam sie einen Anruf von ihrem Halbbruder, dem Polizisten, der sagte, er habe ihre Adresse über ihre Autozulassung herausbekommen. »Das ist wirklich lieb und nett von dir, John«, sagte sie. Allerdings stellte sich heraus, dass er nicht einfach nur so anrief. Er wollte ihr sagen, dass Mum im Krankenhaus lag. Neben ihrer kaputten Leber gab es noch viele andere unheilvolle Vorzeichen; das schlimmste davon war, dass sie nichts mehr aß. Sie redete unzusammenhängendes Zeug, aber eins war klar: Mum wollte Diane sehen, bevor sie starb. Diane sagte, sie wolle sich nach dem Preis für ein Flugticket erkundigen, aber dann rief John erneut mitten in der Nacht an und sagte über eine knisternde Leitung, Mum sei »gegen zehn Uhr abends friedlich entschlafen«.

Am nächsten Morgen kaufte Diane ein Flugticket. John erwartete sie in der Ankunftshalle von Heathrow. Nach einer steifen Umarmung wuchtete er ihren Koffer auf seine Schulter und trug ihn wie einen Sack Mehl zu seinem Lada. Er war ein Riese mit einem furchtbaren Walrossschnauzer, unbeholfen und ehrerbietig. Früher einmal ein wendiger Rugby-Stürmer, war er jetzt aufgequollen, kurzatmig und langsam. Er benutzte Haargel. Sein Gesicht war rot, seine Lippen rissig und seine Augen rund und glänzend. Die geplatzten Äderchen auf Nase und Wangen waren die typischen Anzeichen des Alkoholikers. Als sie im Wagen saßen, in dem er mit dem Kopf an die Decke stieß und sein massiger Körper über den Sitz quoll, sagte er zu Diane, sie sehe »ziemlich fit aus für ihr Alter«. Der Schalthebel sah in seiner Pranke so zierlich aus, dass es ein Wunder war, dass er ihn nicht abbrach.

Noch ehe sie den Flughafenzubringer verlassen hatten, fühlte Diane sich daran erinnert, dass in England alles kleiner, enger, kompakter, dichter und vom Zahn der Zeit gezeichnet war.



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