Das Tagebuch und das Traumbuch (German Edition) by Gottfried Keller
Autor:Gottfried Keller [Keller, Gottfried]
Die sprache: de
Format: azw
veröffentlicht: 2011-04-10T16:00:00+00:00
15. September 1847
Heute nacht besuchte ich im Traum meine Mutter und fand eine große Riesenschlange auf dem Tabouret zusammengeringelt liegen, wie früher unsere rote Katze, welche gestorben ist. Die Schlange bildete eine ordentliche Pyramide auf dem kleinen Stühlchen, auf dem obersten engsten Ringe lag der kleine Kopf, und neben ihm ragte das spitzige Schwanzende empor, welches aus dem hohlen Innern des Turmes vom untersten Ringe her aufstieg. Da ich erschrak, so versicherte meine Mutter, es sei ein ordentliches gutes Haustier, und sie weckte dasselbe. Wirklich entwickelte sich die Schlange sehr gemütlich, gähnte und reckte sich nach allen Seiten, wobei sie die schönsten Farben schimmern ließ. Dann spazierte sie in hohen Wellenbewegungen in der Stube umher, über den Schreibtisch und über den Ofen hin, stellte sich auf den Schwanz und fuhr mit dem Kopfe, da sie sich bei weitem nicht ganz aufrichten konnte, rings an der Stubendecke umher, als ob sie Raum suche. Dann folgte sie der Mutter in die Küche und auf den Estrich, wo sie hinging. Auch ich tat bald vertraut mit dem Tier und rief es gebieterisch beim Namen, den ich vergessen habe. Plötzlich aber hing die Schlange tot und starr über den Ofen herunter und nun fürchteten wir sie erst entsetzlich und flohen aus der Stube. Da wurde sie wieder munter, putzte sich, lachte und sagte: »So ist es mit euch Leutchen! Man muß immer tot scheinen, wenn man von euch respektiert werden soll.« Wir lachten auch, spielten mit ihr und streichelten sie. Da stellte sie sich wieder tot, sogleich wichen wir entsetzt zurück; sie machte sich wieder lebendig und wir näherten uns wieder, sie erstarrte nochmals und wir sprangen immer wieder fort. So trieb sie das Spiel, während ich mich in andere Träume verlor, die sehr schön waren; denn es reut mich sehr, daß ich alles vergessen habe. Ich glaube, ich träumte von der Winterthurerin, weil mich immer noch eine Sehnsucht treibt, diese Träume auszugrübeln, aber es ist vergebens. Man sollte sich während besonderer Träume bestimmte Kennzeichen machen können. Dies erinnert mich an einen Traum, den ich vor einigen Jahren hatte, wo ich, von schrecklichen Bildern gequält und gepreßt, mich kurz und gut entschloß, mich an der Nase zu zupfen, damit ich erwache. Dies geschah auch und ich fühlte beim Erwachen noch deutlich den Druck des Daums und Zeigefingers an meiner Nase. Als ich diesen lustigen Vorfall erzählte, machten die Leute ungläubige Gesichter, obgleich ich durch ihre eigenen Erzählungen ähnlicher Träume dazu veranlaßt war. Sie stießen sich auch nicht am Sonderbaren, sondern nur am Zutreffenden und Passenden dessen, was ich zum Gespräche und Stoff desselben beitrug. Weil viele Schwätzer die Gewohnheit haben, von jeder Sorte von Erfahrungen und Merkwürdigkeiten, die gerade verhandelt werden, auch eine noch auffallendere besitzen zu wollen, so schienen die Leute mich auch in diese Klasse zu stellen. Aber da mir sonst immer der Vorwurf der Einsilbigkeit und mürrischen Wesens gemacht wird, bewies mir dies nur wieder die beleidigende Gedankenlosigkeit der meisten Leute. Auch dem Schulz werde ich beim Frühstücke keine Träume mehr erzählen, weil er den Verdacht aussprach, daß ich dieselben vorweg ersinne und erfinde.
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