Das Leben in 90 Minuten by Gunter Gebauer

Das Leben in 90 Minuten by Gunter Gebauer

Autor:Gunter Gebauer [Gebauer, Gunter]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Philosophie, Sport, Fußball, Gesellschaft, Medien
ISBN: 9783641147969
Herausgeber: Pantheon
veröffentlicht: 2016-03-17T07:45:40+00:00


Masse und Ich im Fußball

Als wirtschaftlicher Faktor sind Spieler und Zuschauer Teil von weit über den Sport hinausgreifenden ökonomischen und emotionalen Verflechtungen. Neben den großen Events der Popkultur gehören Fußballspiele zu den Massenspektakeln der Gesellschaft. Für die Ereignisse in den Stadien werden »Bühnenbilder für die Massen« errichtet, wie der Architekt Volkwin Marg selbstbewusst über sein Werk feststellte.14 Sie sollen die Emotionen der Zuschauer steuern und intensivieren – eine Erregungsarchitektur, die zusätzlich mit akustischen Anlagen zur Verstärkung der Publikumsgeräusche bestückt ist. Man denkt dabei sofort an Aufmärsche und den propagandistischen Einsatz von Menschenmassen. Im Sport und in der Popkultur sind die Massen jedoch anders beschaffen als die historischen Beispiele, insbesondere anders als revolutionäre Massen. Von diesen unterscheiden sie sich fundamental in Konstitution, Dauer und Richtung. An der Differenz zu den historischen Beispielen lässt sich erkennen, dass die Zuschauermassen im Fußball von den Vorstellungen der politischen Tradition deutlich zu unterscheiden sind.

Im Fußballstadion bildet sich eine Öffentlichkeit, in der viele Menschen mit anderen kollektive Gefühle teilen. Die von der Stadionmasse erzeugten Emotionen haben Resonanzen weit über den Ort des Geschehens hinaus. Andere Menschen hören, lesen von den Spielen, sehen sie im Fernsehen und werden von ihnen angezogen: Auch sie wollen dabei sein und an ihnen teilhaben. Die von den Massen im Stadion geteilten Emotionen haben die Tendenz, zu wachsen, immer mehr Menschen anzuziehen. Von der Ausbreitung des Public Viewing während der WM 2006 konnte man diese Annahme Elias Canettis15 bestätigt sehen. Auch ein zweites von Canetti beschriebenes Merkmal tritt bei Massen im Fußball auf: Sie sind intentional gerichtet, auf das Spektakel im Stadion bezogen.

Es ist nicht das Spiel allein, das die Emotionen der Zuschauer erzeugt; sie entstehen in komplexen Wechselwirkungen und Interaktionen. Spannung und Erregung werden auch von den Wiederholungen wichtiger Szenen auf der Videowand, von anfeuernden Ansagen, den Aktionen der Fangruppen, vom Beifall und Singen, von der Präsentation der Mannschaften, von den angeblichen Fehlentscheidungen des Schiedsrichters hervorgerufen. Der heiße Kern der kollektiven Emotionen im Stadion sind die Fans. Ihr enger Zusammenschluss entsteht nicht in erster Linie dadurch, dass sie sich untereinander kennen; vielfach ist dies nicht der Fall. Entscheidend für die Gemeinschaftsbildung ist, dass sie sich immer zur gleichen Zeit an demselben Ort, in der Fankurve des Stadions, versammeln und gemeinsam dieselben Rituale vollziehen. Voraussetzung für ihre kollektiven Handlungen ist eine starke emotionale Verbundenheit mit dem Verein und seinen Spielern, eine begeisterte Übernahme der Symbole und Heldengeschichten des Clubs (Vereinsfarben, Wappen, Gesänge, Flaggen, Trikots, denkwürdige Daten und Spieler) sowie der Feindschaft zu rivalisierenden Clubs und ihren Anhängern (»Fanfeindschaft«). In der Vereinzelung wirken die Fans wie unscheinbare Bürger mit etwas eigentümlichen Vorlieben; bei den hardcore fans dreht sich das ganze Leben um »ihren« Verein.

Auf den ersten Blick scheinen alle Vorurteile auf die Fans zuzutreffen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, angefangen mit Gustave Le Bon,16 gegenüber den Massen vorgebracht worden sind: Massen sind schwankend, wankelmütig, emotional, urteilsunfähig, ihre Mitglieder verlieren ihre personale Identität. Aus heutiger Sicht erscheint diese Beschreibung der sozialen und psychischen Mechanismen der Masse problematisch. Die wichtigen historischen Theorien basieren



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