Das Gespenst des Populismus by Bernd Stegemann

Das Gespenst des Populismus by Bernd Stegemann

Autor:Bernd Stegemann
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Verlag Theater der Zeit
veröffentlicht: 2017-11-15T00:00:00+00:00


Der Egoismus der Intellektuellen und die Angst der Linken

Eine dialektische und materialistische Analyse könnte die Ideologie unserer Zeit begreifbar machen, so wie die Marxisten des 19. Jahrhunderts die Lüge der bürgerlichen Klasse enttarnt hatten. In den Dramen Henrik Ibsens konnte z. B. das einmal durchschaute Bürgertum für alle sichtbar vorgeführt werden. Hier ringen erfolgreiche Bürger um moralische Integrität und kämpfen gegen ihre Leichen im Keller. Gerade aufgestiegen, droht ihnen schon wieder der Abstieg, da ihr Eigentum auf Lügen basiert. Die Zuschauer verstanden, dass in einem kapitalistischen System nur der Erfolg hat, der über Leichen geht, und nur der erfolgreich bleibt, der seine unmoralischen Taten am besten zu verstecken weiß. Das ökonomische System produziert notwendig ein schuldiges Handeln und es gibt keinen unschuldigen Reichtum, da das Kapital des einen die Schulden oder der vorenthaltene Lohn des anderen sind. Die mit viel Energie betriebene Lebenslüge der bürgerlichen Klasse besteht darin, vor sich selbst und der Welt ein moralisch integres Leben vorzutäuschen, obschon man egoistisch von der Ungleichheit profitiert.

Das neoliberale Regime hat zu diesem Widerspruch die charakteristische Wendung der Postmoderne hinzugefügt. Zwar gilt noch immer, dass die ökonomischen Bedingungen ein schuldiges Handeln notwendig voraussetzen. Doch ist diese Schuld vollständig in den Bereich des Nichtmenschlichen verbannt worden. Heute lebt das liberale Bürgertum in der Illusion, dass der Kapitalismus seine bösen Seiten haben mag, doch der Einzelne in ihm durch reflektiertes Handeln unschuldig bleiben kann. Die ideologische Basis für die Verdrängung besteht darin, dass sich der Einzelne nicht mehr als Teil einer Klasse versteht, sondern als ein unvergleichliches Subjekt, das vor allem mit sich selbst in einem Rechtfertigungsdialog steht. Dieser wird dann in der Form eines naiven magischen Denkens geführt: Ich benutze zwar ein Smartphone, für dessen Produktion Sklaven in Afrika seltene Erden abbauen, Arbeiter in China zu Hungerlöhnen schuften und die Natur zerstört wird, aber da ich dieses weiß, ist meine Schuld durch Selbstreflexion gemildert.

Die Folge einer solchen Selbstbeschwichtigung besteht darin, dass jeder bereitwillig seine Leichen im Keller zugibt, aus diesem Bewusstsein aber nicht nur keinerlei Handlungen folgen, die an der Notwendigkeit der Schuld etwas ändern würden, sondern die Selbstwidersprüchlichkeit der eigenen Existenz zum Ausweis einer besonders moralischen und erfolgreichen Biografie wird. Je reflektierter das Subjekt seine Widersprüche als unlösbare Paradoxien offenbart, desto wertvoller erscheint es im liberalen Diskurs. Ibsens Bürger hatten noch ein schlechtes Gewissen, das sie verstecken wollten, die Bürger der Postmoderne sind stolz darauf, ein schlechtes Gewissen zu haben, das sie gewinnbringend herumzeigen können.

Die letzte Wendung in diesem Selbstbetrug hoch zwei besteht in der propagandistischen Meisterleistung des liberalen Populismus, der die Selbstverzauberung aller individuellen Ansprüche öffentlichkeitswirksam unterstützt. Jedes subjektive Begehren kann nun eine allgemeine Anerkennung beanspruchen und jede Kränkung des lieben Ichs ist Ursache für vehemente Beschwerden. Die ökonomischen Privilegien des Besitzindividualisten finden ihre Krönung im moralischen Diskurs der Political Correctness. Dessen größter Nutzen ist, dass seine moralische Überheblichkeit der Schutzschild für die Ausbeutung ist, die auf seiner Rückseite versteckt wird.

Heute wächst der Protest gegen einen Liberalismus, der die Gewinner auch noch zu den moralisch besseren Menschen macht. Die erste Folge dieser Angriffe besteht darin, dass sich die liberale Klasse in zwei Lager teilt.



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