Culturstudien by Wilhelm Heinrich Riehl

Culturstudien by Wilhelm Heinrich Riehl

Autor:Wilhelm Heinrich Riehl
Format: epub
Tags: essay


Zweites Buch.

Zur Volkskunde der Gegenwart.

Die Volkskunde als Wissenschaft.

Ein Vortrag.

1858.

I.

Die Volkskunde als selbständige Wissenschaft ist eine halbvollendete Schöpfung der letzten hundert Jahre; die Anläufe und Beiträge zur Volkskunde dagegen sind so alt wie die Geschichte der Litteratur. In den ältesten Heldengesängen und Religionsbüchern – ich erinnere nur an Homer und die fünf Bücher Mosis – besitzen wir ethnographische Quellen, aus deren klarem Spiegel ein Scharfblick der Beobachtung und eine naive Sicherheit der Charakteristik widerstrahlt, wie wir sie in den meisten späteren gelehrten Aufzeichnungen vergebens suchen. Herodot wird der Vater der abendländischen Geschichtschreibung, indem und weil er der Vater der Volkskunde ist; er unternimmt bereits Reisen, um mit dem Geschichtsstudium das vergleichende Volksstudium zu verbinden, und durch sein ganzes Geschichtswerk geht die ethnographische Tendenz, einer in der Parallele sich wechselsweise beleuchtenden Gegenüberstellung griechischen und asiatischen Volksthumes. Dennoch aber wird Niemand behaupten, daß der Verfasser des Pentateuch oder Homer oder Herodot eine wissenschaftliche Volkskunde geschrieben hätten; man nennt diese Männer vielmehr Religionslehrer, Dichter und Geschichtschreiber; denn die Volkskunde ist bei ihnen dienstbar, nicht Hauptzweck. Solange ein Wissenszweig aber blos dient, ist er überhaupt keine Wissenschaft, er wird dies erst, indem er sein Centrum in sich selber findet, das heißt, indem er frei und selbständig auftritt. Wir nennen darum z. B. die Nationalökonomie, die Chemie, die Physiologie neue Wissenschaften, obgleich sie als dienstbare Wissenszweige uralt sind; neu ist nur ihre Freiheit, kraft deren sie ihr Centrum in sich selber gefunden, ihre Gesetze, ihre Methode aus sich selber heraus entwickelt haben und eben dadurch erst eigentliche Wissenschaften geworden und dann weiter durch diese einzige Thatsache wunderbar rasch zu einer ganzen Welt von neuen Resultaten durchgedrungen sind. Der Knecht, der ein freier Mann wird, wird zugleich ein neuer Mann, dessen Leistungen nicht blos im Maß, sondern auch im Inhalt seine frühere Knechtsarbeit unendlich überragen.

Die Dienstbarkeit der Volkskunde geht durch die ganze antike und mittelalterliche Zeit. Geographen und Reisebeschreiber, Dichter und Historiker geben nebenbei die lehrreichsten ethnographischen Fragmente, aber kaum Einer macht die Erkenntniß des Volkslebens als solchen zum bewegenden Mittelpunkte seines Schaffens. Ich sage: zum bewegenden Mittelpunkte. Denn wo sich ja selbständige Völkerschilderungen finden, da bietet man uns doch nur eine gewisse Summe lose zusammengereihter Beobachtungen, Rohstoff zur Volkskunde, dem aber die innere Gesetzmäßigkeit wissenschaftlicher Anordnung und Durcharbeitung fehlt.

So hat Pausanias Griechenland, Syrien und Phönicien als Tourist durchwandert und beschrieben, und zwar als ein so vollkommener Tourist, daß Scaliger ihn mit einigem Recht den größten Aufschneider unter allen griechischen Schriftstellern nennen konnte. Allein ein solches subjectives Gemälde aller möglichen Gegenstände und Reiseeindrücke ist noch lange keine selbständige Volkskunde, geschweige eine wissenschaftliche. Man könnte es mit gleichem Fug eine Aesthetik oder eine Kunstgeschichte nennen, weil die Charakteristik vieler Kunstwerke darin enthalten ist, oder eine Geschichte wegen der eingeflochtenen historischen Anekdoten. Jede Reisebeschreibung als solche kann höchstens eine Materialiensammlung zur Volkskunde, wie zu hundert andern Disciplinen sein.

Viel höher als Pausanias steht Strabo, der in seinem großen historisch-statistischen Werke den ethnographischen Stoff schon zu sichten und zu ordnen und das Volksleben nach seinen örtlichen, geschichtlichen und staatlichen Motiven zu begreifen beginnt.



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