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Autor:Unbekannter Autor
Die sprache: deu
Format: epub


Gott und das Gen

Einmal in der Woche ging Yasin mit seiner Mutter in eine Frühfördergruppe. Dort kam er mit Kindern zusammen, die Fehlbildungen verschiedenster Art hatten, vor allem aber geistige Behinderungen, und manchmal zeigte Meral Sancar fast so etwas wie Dankbarkeit dafür, dass sie ein hübsches, waches Kind hatte, einen Jungen mit wunderschönen Augen, und keinen dieser aussichtslosen Pflegefälle, die nicht viel mitbekamen, halbblind waren und bloß noch vor sich hin sabberten. Sie sprach häufig mit mir darüber, sie musste darüber sprechen, weil sie diese großen Unterschiede im Leid von Kindern sehr beschäftigte, und ich sagte ihr, dass es ihr bestimmt nicht nützen würde, Krankheiten miteinander zu vergleichen, wie ich es früher selbst gemacht hatte. Meral Sancar verstand das sehr gut, sie hatte es schon oft genug gespürt, aber die Augen wanderten dann doch wieder von einem Kind zum anderen.

Jedenfalls sagte mir Meral Sancar, dass ihr der Austausch mit den Müttern gut tat, als ich mir einen eigenen Eindruck von der Gruppe verschaffen konnte. Es macht mich gerechter und manchmal auch gelassener, sagte sie. Es half ihr sehr, zu spüren, dass es andere, schwere Schicksale gibt, zu merken, dass sie das Elend dieser Welt nicht für sich allein gepachtet hatte. Wenn sie Kinder sah, die schrille Schreie ausstießen, in der Hocke kauernd wippten und sich verzweifelt an ein Leben klammerten, das oftmals grausam zu ihnen ist.

Kleine, müde Geschöpfe, die versuchten, gegen große Bälle zu treten, oder einfach nur dasaßen, mit der Trostlosigkeit ihrer Motorik, und sich minutenlang anstarrten. Es war für Meral Sancar eine äußerst wichtige Erfahrung, und wie oft, sagte sie mir, hatte sie danach zu Hause ihren Sohn vor Freude zitternd auf die Arme genommen, sich gefreut, dass er so entzückend ist, und dabei an eine alte türkische Weisheit gedacht. Der liebe Gott, heißt es da, holt sich die schönen Kinder zuerst. Weil er sie nur für sich haben will.

Manchmal ließ sie dieser feste Glaube an die Dankbarkeit nicht mehr los. Sicher, fragte sie sich, was gibt es da zu danken, wenn du ein Kind hast, das vermutlich vor dir stirbt? Wenn sie im stillen Gram nicht schlafen konnte und nicht verstand, was dort im Körper ihres Kindes vor sich ging, wieso in ihm das Grauen schlummerte, während er sich liebevoll an seine Mutter kuschelte. Und doch war diese Dankbarkeit für sie wie eine sichere Brücke, die hoch über dem tiefen Abgrund stand, in den sie stets zu stürzen drohte. Sie war für sie ein schwankendes Etwas zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Glück und Angst, und dieses Gefühl von Dankbarkeit kannte sie noch von damals, als sie beim Treffen auf der Burg Satzvey all die anderen Kinder mit fortgeschrittener Progerie erblickt hatte und keinen sichtbaren Zusammenhang erkennen wollte zwischen diesen zittrigen, kleinen Greisen und ihrem Sohn. Was soll ich eigentlich hier?, fragte sie sich, ich erinnerte mich noch gut daran, wie laut sie es rief und sie einige Kinder erschreckt anblickten, was soll ich eigentlich hier? Danach dankte sie Gott und sträubte sich mit aller Kraft gegen die



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