Unsichtbare Frauen by Caroline Criado-Perez
Autor:Caroline Criado-Perez [Criado-Perez, Caroline]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fach-/Sachbuch
Herausgeber: btb Verlag
veröffentlicht: 2020-02-09T23:00:00+00:00
TEIL IV
Der Arztbesuch
10
Wirkungslose Medikamente
B is Michelle eine Diagnose erhielt, vergingen zwölf Jahre. »Mit ungefähr 14 hatte ich zum ersten Mal Symptome«, erzählt sie. »Für einen Arztbesuch habe ich mich zu sehr geschämt.« Dass sie oft schmerzhaften, häufigen, manchmal blutenden Stuhlgang hatte, hielt sie zwei Jahre lang geheim, bis die Schmerzen eines Nachts zu stark wurden. »Ich lag zusammengekrümmt auf dem Boden im Bad und konnte nicht aufstehen. Ich hatte Angst, zu sterben.« Damals war sie 16 Jahre alt.
Michelles Eltern brachten sie in die Notaufnahme. Dort fragte ein Arzt sie (in Anwesenheit ihrer Eltern), ob sie schwanger sei. Nein, erklärte Michelle, denn sie habe keinen Sex gehabt und zudem befinde sich der Schmerz in ihrem Darm. »Sie brachten mich in ein Untersuchungszimmer und setzten mich auf einen gynäkologischen Untersuchungsstuhl. Unvermittelt wurde mir ein kaltes Spekulum aus Metall in die Vagina geschoben. Es tat so weh, dass ich mich aufrichtete und schrie. Die Krankenpflegerin musste mich niederdrücken, während der Doktor bestätigte, dass ich tatsächlich nicht schwanger war.« Michelle wurde entlassen â »mit überteuertem Aspirin und dem Rat, einen Tag lang Ruhe zu halten«.
In den folgenden zehn Jahren suchte Michelle bei zwei weiteren Ãrztinnen oder Ãrzten und zwei (männlichen) Gastroenterologen Hilfe. Beide sagten, die Probleme seien nur »in ihrem Kopf«, sie solle weniger ängstlich und gestresst sein. Mit 26 Jahren wurde Michelle an eine Allgemeinärztin verwiesen, die ihr eine Darmspiegelung verordnete. So wurde klar, dass die gesamte linke Seite von Michelles Darm erkrankt war. Bei ihr wurden das Reizdarmsyndrom und Colitis ulcerosa (chronisch-entzündliche Darmerkrankung) diagnostiziert. »Interessanterweise befindet sich mein Darm nicht in meinem Kopf«, so Michelle. Als Folge der verzögerten Diagnose und Behandlung hat sie nun ein erhöhtes Risiko für Darmkrebs.
Es ist schwer, eine Geschichte wie diese zu lesen und keine Wut auf die Ãrztinnen und Ãrzte zu empfinden, die Michelle so im Stich gelassen haben. Tatsache ist jedoch, dass sie keine Ausnahmefälle sind, sondern Produkte eines Medizinsystems, das in seiner Gesamtheit Frauen systematisch diskriminiert. Frauen werden in diesem System chronisch falsch verstanden, falsch behandelt und falsch diagnostiziert.
Das beginnt schon mit der Ausbildung der Ãrztinnen und Ãrzte. Früher wurde angenommen, dass es zwischen Männer- und Frauenkörpern auÃer der GröÃe und der reproduktiven Funktion keine grundsätzlichen Unterschiede gebe. Jahrelang konzentrierte sich die medizinische Ausbildung deshalb auf eine männliche »Norm«. Alles von dieser Norm Abweichende wurde als »atypisch« oder gar »anormal« 745 qualifiziert. Referenzen auf den »typischen Mann von 70 Kilogramm« 746 sind zahlreich â als decke er beide Geschlechter ab. Ein Arzt erzählte mir, dieser angeblich typische Mann repräsentiere nicht einmal Männer besonders gut. Wenn Frauen erwähnt werden, dann als Variation des Standards. Studierende lernen Physiologie und weibliche Physiologie, Anatomie und weibliche Anatomie. Die Sozialpsychologin Carol Tavris kommt in ihrem Buch The Mismeasure of Woman von 1992 zu dem Schluss: »Der männliche Körper steht für die Anatomie als solche.« 747
Die Norm des Männlichen reicht mindestens bis auf die alten Griechen zurück, die den weiblichen Körper zuerst als »verstümmelten männlichen« Körper betrachteten. Dafür dürfen wir uns bei Aristoteles bedanken. Der weibliche Körper war der »von auÃen nach innen gekehrte« männliche Körper.
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