Tage mit Leuchtkäfern by Zoe Hagen

Autor:Zoe Hagen [Hagen, Zoe]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783548286945
veröffentlicht: 2016-01-01T00:00:00+00:00

18. Januar

Lieber Gott,

ist es grausam, wenn ich mich frage, wie du es fertiggebracht hast, eine Kreatur wie meine Mutter zu erschaffen? Kreatur. Das Wort klingt irgendwie so böse. So Herr der Ringe-mäßig. Ich sollte nicht solche Gedanken haben. Doch ich frage es mich trotzdem. Sie hat wohl recht. Ich bin eine schreckliche Tochter. Ein egoistisches, blödes Ding. Mein Stiefvater hat heute zu mir gesagt, dass ich scheiße bin. Ich weiß nicht genau, ob mit großem oder kleinem s, ich nehme jetzt einfach mal das kleine, weil ich mich so bemühe, positiv zu denken und das Beste in allen Menschen zu sehen. Aber es fällt mir schwer.

Ich weiß natürlich ganz genau, dass immer noch die Möglichkeit besteht, dass ich total übertreibe. Dass eigentlich alles gar nicht so schlimm ist. Nur weil es von außen betrachtet so wirken mag, heißt es nicht, dass es auch stimmt, oder? Ich meine, man kann doch nicht sagen, dass meine Gefühle falsch sind. Oder übertrieben. Das geht doch nicht, oder? Irgendwelchen Menschen dort draußen geht es natürlich weitaus beschissener als mir, und im Gegensatz zu ihren sind meine Probleme nicht existentiell, aber weißt du was, dennoch sind meine vergleichsweise mickrigen Sorgen potentiell lebensbedrohend. Selbstmord ist ein westliches Problem, und ich habe Angst, dass es vielleicht zu meinem wird.

Lieber Gott, manchmal wünsche ich mir, du würdest mir im Traum erscheinen oder dass ich dich sonst irgendwie sehen und wirklich mit dir reden könnte, denn ich brauche jemanden zum Reden. So dringend wie nie zuvor.

Mein Herz tut weh. Das klingt komisch, es ist aber wirklich so. Mein. Herz. Tut. Weh. Ich weiß nicht, wohin mit dem ganzen Schmerz. Am liebsten würde ich ihn einfach wie Fett absaugen lassen und dann in ein Marmeladenglas füllen, um später darauf zurückzublicken, so wie Amira es mir gesagt hat. Ich habe das Gefühl, als wäre ich umgeben von allen möglichen Menschen – meiner Mutter, meinen Geschwistern, meinem Stiefvater –, und ich schreie und schreie, aber niemand hört mich. Nie. Meine Stimme ist einfach nicht laut genug.

Wir haben gestern doch noch über den Tod geredet. Also nicht ich. Ich habe eigentlich nur zugehört.

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