Kursbuch 174 (B00D1VOHZO) by Armin Nassehi (Hg.)

Kursbuch 174 (B00D1VOHZO) by Armin Nassehi (Hg.)

Autor:Armin Nassehi (Hg.) [Nassehi (Hg.), Armin]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: ISBN 978-3-86774-312-9 (E-Book)
Herausgeber: Murmann Verlag
veröffentlicht: 2013-06-03T04:00:00+00:00


4. Liberale Enthemmung oder: Die moralische Aufwertung des Eigeninteresses

Was das Anforderungsprofil sowohl an den Staat als auch an den Einzelnen im täglichen Leben zu ermäßigen hilft und zu sozialer Entlastung beitragen kann, bleibt indes nicht ohne Nebenwirkung. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hat der in London lebende Arzt und Satiriker Bernard Mandeville all denen ein gutes Gewissen beschert, die sich nach Kräften nur um sich selbst sowie um ihr eigenes Glück und Fortkommen kümmerten. Damit trieb er die moralische Entlastung auf die Spitze und schuf ein Modell liberaler Enthemmung, das seither in Ökonomie und Wirtschaftsethik erfolgreich weite Kreise zieht. Was auch immer es für ein Mechanismus sein mag, der da hinter dem Rücken der Akteure am Werk ist, er soll sogar die privaten Laster der Eigensucht in öffentliches Wohl ummünzen. »Private vices, publick benefits«, versprach Mandeville noch in satirischer Manier in seiner Bienenfabel. Fortan durfte jeder Eigeninteressierte sich sogar damit brüsten, als solcher ein förderliches Mitglied der Gemeinschaft zu sein. Der liberale Egoist mit gutem Gewissen war geboren – früher noch, als ihn zuletzt Frank Schirrmacher in seiner Ego-Geschichte präsentierte.18 Wo Selbstbeherrschung war, wird der Eigennutz zum Wohle aller entfesselt. Die liberalen Denker der Schottischen Aufklärung bemühten sich zwar nach Kräften, Mandevilles Thesen moralisch noch einmal einzufangen. Aber der Stachel der Bienenfabel saß tief, und die moralische Aufwertung des Eigeninteresses gewann an Plausibilität, bis Ayn Rand vor etwa 50 Jahren »selfishness« sogar in den Status einer Tugend erheben konnte.19 Noch die berühmte Sentenz aus Smiths Wohlstand der Nationen, dass uns Brot und Bier nicht das Wohlwollen der Bäcker und Brauer verschafft, sondern deren Rücksicht auf ihr wohlverstandenes Eigeninteresse, steht in diesem Kontext. Das wirkte enthemmend. Zumal das, was Adam Smith als Satz einer ökonomischen Theorie verstand, sich leicht zur praktischen Neid- und Gierlizenz im Alltag banalisieren ließ. Theoretische Sätze sind wehrlose Geschöpfe. In der täglichen Praxis werden Erkenntnisse in Bedürfnisse übersetzt und umgekehrt. Insoweit, als wir diese Beobachtung schon im 18. Jahrhundert machen können, irrt Peter Sloterdijk, wenn er glaubt, noch nie sei liberales Denken so weit vom vornehmen Pol der menschlichen Möglichkeiten entfernt gewesen wie gegenwärtig.

Was folgt aus alledem für das richtige Wählen im Herbst? Ich werde einfach mein Bestes geben. Ich werde meine Stimmen geben, wie es mir nach reiflicher Überlegung und durch Hören auf meine innere Stimme als richtig erscheint, und tröste mich mit der Vorstellung, dass, sollte ich falschgelegen haben, es immer noch 61.799.000 andere gibt, die es herausreißen können.



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