Ich â der Augenzeuge by Ernst Weiß
Autor:Ernst Weiß [Weiß, Ernst]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
Das Los eines mit hysterischer Blindheit geschlagenen Menschen ist immer sehr schwer. Er ist mehr Krüppel als einer, der auf zwei Prothesen daherhumpelt. Er ist unglücklicher als ein âºechter Blinderâ¹. Ein solcher Mensch findet sich oft sehr schnell mit seinem Unglück ab. Die echten Blinden sehen nach innen. Sie arbeiten sehr gerne, sind anstellig, bescheiden, lernen ein Blindengewerbe ausüben, lernen Blindenschrift lesen. Oft gründen sie eine Familie, und man ist überrascht von ihrem zufriedenen Gesichtsausdruck. Man bemitleidet sie, was sie gar nicht wollen, und hilft ihnen. Anders ist es aber mit den hysterisch Blinden. Hier im Lazarett hatte H. gut Sympathien sammeln. Er war hier noch von Staats wegen und auf Staatskosten untergebracht, er litt keine äuÃere Not, hatte sogar viel Gesellschaft, er war mit allem Nötigen versehen. Der Krieg ging aber zweifellos seinem Ende entgegen. Was konnte dann für diesen Mann kommen? Wer nahm ihn auf? Nicht die Blindenanstalt, nicht die Heimatgemeinde, nicht einmal eine Irrenanstalt. Er hatte keine Familie, seine Heimat war die Kaserne. Er war nicht richtig avanciert, denn der Unteroffizier beginnt erst beim Sergeanten, aber er war ein guter Soldat, der Gefreite. Er war Soldat, Soldat, Soldat und sonst nichts.
Aber selbst wenn die alte Armee weiter bestünde, was sollte sie mit einem Menschen beginnen, der nicht sehen konnte? Er, der schon einmal beinahe gebettelt hatte, der auf Hausieren mit Postkarten angewiesen war, er konnte weiter betteln; Postkarten zu bemalen war er aber nicht mehr imstande.
War ihm zu helfen? Ich dachte lange nach, und endlich ging es mir auf. Ich konnte versuchen, durch eine ingeniöse Verkuppelung seiner zwei Leiden mit seinem Geltungstrieb, seinem Gottähnlichkeitstrieb, seiner Ãberenergie einen Weg zu finden, ihn von seinen Symptomen zu befreien. Daà ich ihn damit nicht von seiner Grundkrankheit heilen konnte, gestand ich mir nicht ein. Da war ich blind. Ich wollte es nicht sehen, weil mich eine Art Leidenschaft ergriffen hatte. Auch ich wollte wirken, ich muÃte handeln. Ich wollte herrschen, und jede Tat ist mehr oder weniger ein Herrschen, ein Verändern, ein Sich-über-das-Schicksal-aktiv-Erheben. Auch H. hatte sich über das Schicksal erhoben. Er wurde lieber blind, als daà er sich den Untergang Deutschlands ansah. Seine Blindheit war ein Zeichen seines auÃergewöhnlich starken Willens.
Ich muÃte diesen Mann, der bei aller seiner Nüchternheit beim Wein in seinem GröÃenwahn ein hemmungsloser Phantast war, mit der Phantasie fassen. Er, der vielleicht im einzelnen nicht immer mit Absicht, Ziel und Zweck log, sondern im ganzen ein Stück gigantischer Lüge war, für den es keine absolute Wahrheit gab, sondern nur die Wahrheit seiner Phantasie, seines Strebens, seiner Triebe, ihm muÃte ich nicht mit logischen Ãberlegungen, sondern mit einer groÃartigen Lüge kommen, um ihn zu überwältigen.
Ich lieà ihm durch den ihm so sehr gewogenen Unteroffizier mitteilen, ich interessiere mich für seinen Fall, der etwas AuÃergewöhnliches sei und der vielleicht in einer Stunde geheilt sein könne, und ich würde ihn im Laufe des Tages sofort holen lassen, sobald ich eine freie Minute hätte. Er setzte eine abweisende Miene auf, berichtete man mir, vielleicht hatte er Angst, ich könnte ihn durchschaut haben.
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