Hier stehe ich, es war ganz anders | Irrtümer über Luther by Malessa Andreas

Hier stehe ich, es war ganz anders | Irrtümer über Luther by Malessa Andreas

Autor:Malessa, Andreas [Malessa, Andreas]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Kleines Lexikon, Lutherdekade, Martin Luther, Reformation, Reformationsjubiläum, lustig, eBook
ISBN: 9783775172738
Herausgeber: SCM Hänssler
veröffentlicht: 2016-10-19T16:00:00+00:00


Jahrhunderte später erst werden die geistigen, die spirituellen, die kirchlichen und damit politischen Lawinen deutlich werden, die Luther hier lostritt. Sehr vereinfacht gesagt: Der Mann hat den Individualismus erfunden. Vor ihm hatten sich viele Wissenschaftler und Künstler wie Leonardo da Vinci oder Michelangelo Buonarotti bereits individuelle Freiheiten »rausgenommen« und waren durch ihre Genialität und Popularität geschützt. Jetzt aber beansprucht diese Freiheiten ein kleiner Dicker aus Thüringen für alle Menschen.

Die Wucht und die Wirkung dieser Rede kann kaum überschätzt werden: Ein Mensch beruft sich auf das, was er selbst (!) in der Bibel gelesen hat und was ihm »vernünftig« erscheint. Damit installiert er sein »an die Schrift gebundenes Gewissen« und sein eigenes Denken als die für ihn höchste (!) moralische Instanz. Er beansprucht, selbstständig glauben, denken und schlussfolgern zu dürfen und danach sogar handeln zu müssen. Martin Luther behauptet, der Mensch sei so unmittelbar und persönlich Gottes Gegenüber, dass er die Geistesfreiheit (und in der praktischen Konsequenz damit die Freiheit der Wissenschaft und der Kunst, die Pressefreiheit, die Gewissens- und Religionsfreiheit, die Versammlungs- und Meinungsfreiheit) beanspruchen darf und die moralische Verantwortung für sein Handeln übernehmen kann.

Das Recht, »Nein« sagen zu dürfen, und die Pflicht, »Nein« sagen zu müssen – damit kommt das geistige Zwillingspaar »Freiheit und Verantwortung« auf die Welt. Grundlage des Menschenbildes der folgenden Jahrhunderte. Grundlage jeder humanen Rechtsordnung. Startschuss für die Emanzipation des Individuums.

Woher hatte er das?

Gute Frage. Aus seiner profunden Bibelkenntnis vielleicht? Da ist Hiob, der sich auf seinen bisherigen Glauben und seine Lebenspraxis beruft und dem eisernen Dogma »Krankheit ist Strafe für Sünde« hartnäckig widerspricht. Jesus, der sich über die Lehrautorität der Priesterversammlung stellt und die Pharisäer fragt: »Ist der Sabbat für die Menschen da oder die Menschen für den Sabbat?!« (vgl. Markus 2,27). Da sind die Jesusjünger Petrus und Johannes, die Redeverbot bekommen und vor dem Religionsgericht sagen: »Muss man nicht Gott mehr gehorchen als den Menschen?!« (vgl. Apostelgeschichte 4,19). Paulus, der vor einem römischen Gericht als Aufrührer angeklagt seine Kehrtwende vom Christenverfolger zum Christusbekenner verteidigt (Apostelgeschichte 26,2-32).

Nachweisbar ist, dass Martin Luther oft an den ehemaligen Rektor der Prager Universität dachte: Johann Hus (1369–1415), der für die Gewissensfreiheit und ein »allgemeines Priestertum« gepredigt und geschrieben hatte und am 6. Juli 1415 auf dem Konzil in Konstanz verbrannt worden war.

»Indem Luther den Satz aussprach, dass man seine Lehre nur durch die Bibel selber oder durch vernünftige Gründe widerlegen müsse, war der menschlichen Vernunft das Recht eingeräumt, die Bibel zu erklären. Dadurch entstand in Deutschland die Geistesfreiheit und die Befugnisse der Vernunft wurden legitim«, meint Dichter Heinrich Heine 300 Jahre später.118

Weitere 100 Jahre danach geht der ansonsten lutherkritische Schriftsteller Thomas Mann so weit zu behaupten: »Indem er [Luther] die Unmittelbarkeit des Verhältnisses des Menschen zu seinem Gott herstellte, hat er die europäische Demokratie befördert, denn ›Jedermann sein eigener Priester‹, das ist Demokratie. Die deutsche idealistische Philosophie, die Verfeinerung der Psychologie durch die pietistische Gewissensprüfung (…), dies kommt von Luther.«119

Will man die Geschichte Europas in Epochen einteilen, kann man sagen: Am 18. April 1521 in Worms endet das Mittelalter.



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