Es ist schon fast halb zwölf by Becker Zdenka

Es ist schon fast halb zwölf by Becker Zdenka

Autor:Becker, Zdenka [Becker, Zdenka]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Amalthea Signum Verlag
veröffentlicht: 2022-01-24T00:00:00+00:00


Herzogenburg, 17. März 1942

Liebe Hilde und lieber Karl!

Endlich einmal ein Lebenszeichen von Euch! Ich habe schon gedacht, Ihr habt uns ganz vergessen. Vielen Dank für das schöne Bild von Trudi, ich hätte sie gar nicht mehr wiedererkannt, so groß, wie sie jetzt schon ist. Kann sie schon allein laufen? Ich freue mich, wenn ich sie im Sommer sehen kann. Ihr werdet wiederkommen, nicht wahr?

Uns geht es so weit ganz gut. Wie es einem halt jetzt gehen kann. Der Winter dauert heuer furchtbar lange und es ist so kalt und keine Kohle dazu. Den ganzen Winter haben wir 500 kg davon gehabt, jetzt haben wir schon ein paar Monate überhaupt nichts mehr zum Heizen. Es ist nicht einmal die zugewiesene Kohle zum Auftreiben. Franzi hat zwei Monate Kohlenferien gehabt, seit gestern geht sie wieder in die Schule. Ich war im November und Dezember am Semmering auf Erholung. Es war sehr schön dort, am schönsten waren die Berge.

Alois ist immer noch im Lager bei Neulengbach. Er kommt sehr selten nach Hause, höchstens alle fünf, sechs Wochen für ein paar Stunden. Vorige Woche habe ich es schon nicht mehr ausgehalten und bin zu ihm gefahren. Pech gehabt. Ich habe ihn nicht angetroffen, weil er gerade für vier Tage in Stockerau auf Verrechnung war. So sitze ich halt einsam und verlassen mit Franzi in diesem Nest und blase Trübsal, aber hoffentlich nicht mehr lange. Ich habe mich nämlich beim Roten Kreuz gemeldet. Da kann ich im April oder Mai eine Schule in der Nähe von Wien besuchen und dort viel lernen und danach in einem Spital oder wo anders mithelfen. Das würde mir gefallen. Hoffentlich falle ich bei der Prüfung nicht durch. Und hoffentlich bleibe ich gesund, damit ich zum Einsatz kommen kann!

Die Lebensverhältnisse, die Du mir schilderst, sind bei uns fast dieselben. Nur mit den Erdäpfeln ist es leichter, dafür bekommen wir überhaupt kein Obst zu sehen. Unsere Kinder würden es so brauchen. Nicht nur, weil es ihnen schmeckt, sondern auch, weil es gesund ist. Bedenke nur die vielen Vitamine, die darin stecken und die Menschen vor Krankheiten schützen.

Von unserer Gemeinde sind schon sehr viele Männer in Russland gefallen, blutjunge Burschen, meist der einzige Sohn, man wird ganz krank, wenn man das Leid der Angehörigen anschauen muss. Ich sag’s Dir, das Dorf trägt Trauer. Diese Woche werden weitere, noch jüngere Burschen einrücken müssen, die Stimmung bei uns ist auch danach. Überall sieht man nur blasse, verweinte Gesichter. Alle rufen schon nach dem Frieden.

Karl soll sich nicht so viel abrackern. Was hat er denn vom Geld, wenn er krank wird? Du sollst es ihm ausreden und Ihr drei solltet so bald als möglich nach Hause kommen. Er schaut doch so furchtbar schlecht aus. Uns wundert es schon lange, dass er es überhaupt aushält, wo er doch so lange arbeitslos war.

Nun mache ich Schluss mit dem Schreiben und hoffe, dass es nicht wieder sechs Monate dauern wird, bis ich von Euch etwas höre.

Bleibt gesund!

Viele herzliche Grüße an Dich, liebe Hilde, und Deinen Karl

Von Franziska und Franzi

Und viele tausend Busserln an die kleine Trudi.



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