Die Bildhauerin by Pia Rosenberger

Die Bildhauerin by Pia Rosenberger

Autor:Pia Rosenberger
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Aufbau digital
veröffentlicht: 2021-03-18T00:00:00+00:00


Kapitel 19

Die Junisonne stand hoch über der gemächlich dahinziehenden Seine, als Camille die Tür zum Marmordepot öffnete und sich hineinstahl wie eine Diebin. Der große Raum war menschenleer. Die Marmorskulpturen leuchteten kalkweiß im gleißenden Licht. Irritiert bemerkte sie, dass es erstickend warm war. Der Kanonenofen bollerte trotz des heißen Tages.

»Monsieur Rodin?«

Er trat aus dem Nebenraum, gekleidet in einen eleganten Sommeranzug. Freude erhellte sein Gesicht. »Da bist du ja.«

»Was soll ich tun?« Sie zog ihren Strohhut vom Kopf und steckte ein Kämmchen in ihren Haaren fest.

Er zögerte, bevor er weitersprach. »Ich frage mich, ob du bereit wärst, heute nackt für mich zu posieren?«

Hitze überfloss sie. Deshalb der angeheizte Ofen.

»Du musst keine Angst vor mir haben, Camille«, beteuerte er. »Wenn du einverstanden bist, zieh dich hinter dem Wandschirm aus. Wenn nicht, komm einfach so in mein Atelier. Dann machen wir Kopfstudien.«

Er entfernte sich. Camille biss sich auf die Unterlippe. Mit diesem Schritt würde sie eine weitere Grenze überschreiten. Nichts würde sein wie zuvor. Was, wenn er bemerkte, was sie für ihn empfand? Es wäre töricht, sich ihm so zu entblößen. Aber plötzlich wollte sie es unbedingt, wollte, dass Rodins ruhige Augen auf ihr ruhten und sein Zeichenstift ihr Wesen einfing.

Sie trat hinter den Wandschirm, der schon Adela und vielen anderen als Sichtschutz gedient hatte, setzte sich auf den Stuhl und zog ihre Stiefeletten von den Füßen. Langsam knöpfte sie ihre weiße Bluse auf und streifte Rock und Unterrock ab, die sich als dunkler Stoffwust zu ihren Füßen bauschten. Sie lockerte die Schnürung ihres Korsetts und zog es aus. Danach rollte sie die Strümpfe bis zu den Füßen herunter. Das Hemd folgte. Camille schämte sich. Frauen waren von Kopf bis Fuß in Stoffmassen gehüllt. Sogar wenn sie sich wuschen, trugen sie Hemd und Korsett. Nicht einmal Louise hatte Camille je nackt gesehen. Man munkelte, dass auch Eheleute niemals unbekleidet miteinander schliefen und immer unter der Bettdecke, die alle unschicklichen Einzelheiten verbarg. Aber ich werde genau das tun, nahm sie sich vor. Sie würde das kalte Wasser des Meeres, die Sonne und das Licht des Mondes auf ihrer Haut spüren. Das Leben wartete auf sie.

Entschlossen bedeckte Camille ihre Brüste und ihre Scham mit je einer Hand und verließ den sicheren Platz hinter dem Wandschirm.

Rodin stand am Tisch und ordnete seine Zeichensachen. Wie immer strahlte er Vitalität und Selbstsicherheit aus. Camille schluckte. Was, wenn er ihr ansah, was sie für ihn empfand, oder schlimmer, wenn er sie um die gleiche Haltung bat wie Adela? Das würde sie auf jeden Fall ablehnen. Trotz aller Zweifel vibrierte ihr Körper unter seinem Blick.

Er lächelte. »Du beißt ja die Zähne zusammen. Das musst du nicht. Ich werde dich schon nicht fressen. Lass deine Hände locker neben deinem Körper hängen. Denk dran, hier geht es allein um die Kunst.«

Als sie ihre Hände löste, spürte Camille alles gleichzeitig, Angst, Freude und eine sonderbare Spannung, die sich in ihr ausbreitete. Sie versteckte ihre stürmischen Gefühle hinter einem ausdruckslosen Gesicht.

»Besser.« Rodin nickte. »Geh einfach im Atelier herum. Ich werde versuchen, deine Bewegungen einzufangen.«

Während



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