Das Leuchten der Welt by Beto Isabel

Das Leuchten der Welt by Beto Isabel

Autor:Beto, Isabel [Beto, Isabel]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783832189211
Herausgeber: Dumont
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


20

Chicago, 1. Mai 1893

Um zwölf Uhr war es endlich so weit: Bell wartete inmitten unzähliger Menschen am Rande des Jackson Parks, dass die Eröffnungszeremonie der Weltausstellung begann. Den Präsidenten der Vereinigten Staaten wollte sie keinesfalls verpassen. Sie hatte ihn noch nie gesehen, nicht einmal von Weitem. Mit einem Seufzen ließ sie ihre Taschenuhr zuklappen. Gegen die letzte Nacht war die davor im Haus der Schrocks ein Traum gewesen. Nachdem sie vor Rick geflohen war, hatte sie im Hayes and Annex angerufen. Wie befürchtet hatte sie die Verspätung das reservierte Zimmer gekostet. Sie hatte es weiter versucht, in billigen Absteigen wie teuren Etablissements angerufen – nichts. Chicago platzte aus allen Nähten. Lediglich ein Mister Holmes offerierte ihr ein Zimmer in seinem World’s Fair Hotel in der Dreiundsechzigsten. Sie hatte zusagen wollen, als ihr Blick aus dem Post Office auf ein kleines Schild gegenüber fiel: Zimmer frei. Es war nur eine Pension mit einer alten Wirtin, die unfasslich nach Irish Stew stank. Doch die Verlockung, sich sofort aus den Kleidern schälen und duschen zu können, war zu groß.

Die Matratze war hart gewesen, das Zimmer muffig, das Frühstück ein spatzengroßer Klecks Porridge in einer Blechschale. Bell war von Reue und Furcht erfüllt gewesen, doch beides wandelte sich mit der Zeit in zornige Energie. Sie würde es allen schon zeigen! Schließlich war sie in der vollgestopften Hochbahn – eine Kutsche war nicht zu bekommen – zum Jackson Park gefahren, dem Ort der Ausstellung. Es war ein Segen, sich endlich ohne den lästigen Koffer bewegen zu können. Sollte irgendjemand darin herumschnüffeln wollen, die irische Wirtin zum Beispiel – von ihr aus gerne. Im Grunde war fast alles darin unnütz und hinderlich. Sie hätte von Anfang an auf Nellie Bly hören sollen, die in ihrem Buch erzählte, dass sie nur eine Kleidergarnitur in einem winzigen Koffer auf ihre Reise mitgenommen habe. Alles Wichtige, ihre Papiere und ihr Geld, hatte Bell in der Handtasche. Der Besucher möge auf seine Wertsachen achten, denn das Ausstellungsgelände wird bedauerlicherweise auch von zwielichtigen Gestalten besucht, denen man ihre Absichten nicht ansieht, las sie auf einem Schild. Bell wusste aus leidvoller Erfahrung, dass Letzteres nur allzu wahr war: Zwei Banditen war sie entkommen, dann der Fessel namens Rick. So an ihn zu denken weckte ihr schlechtes Gewissen. Aber war es ihre Schuld, dass sie frei sein wollte? Ihre Tanten würden sie nacheinander schütteln und dem Vater vorwerfen, zu nachgiebig mit ihr gewesen zu sein. Alle würden sagen, es sei ihre Schuld. Sie würde …

»Sind Sie geladen, Ma’am?«

»Geladen?« Sie erwachte aus ihren Gedanken. Sie hatte sich mit dem Strom treiben lassen. Hier, am südlichen Ende des Parks, hatte sie vom Gelände nur wenig gesehen. Zwischen den jubelnd hochgereckten Händen, die Hüte, Fähnchen und Blumen schwenkten, ließen sich strahlend weiße Gebäude erahnen. Männer der Guard versuchten die Menge zu ordnen. Sie sahen lustig aus mit ihren Schleifenapplikationen auf den Uniformjacken und den Kinnriemen ihrer Tschakos unter den Lippen.

»Zur Eröffnung eingeladen«, erläuterte der Ordner. »Wenn nicht, dürfen Sie nicht weiter.«

Sie begriff, dass sie vor einem Absperrseil stand.



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