24 weihnachtliche Geschichten - ein Adventskalenderbuch by Boje Verlag

24 weihnachtliche Geschichten - ein Adventskalenderbuch by Boje Verlag

Autor:Boje Verlag
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Boje Verlag
veröffentlicht: 2013-08-15T00:00:00+00:00


14. Dezember

Gerit Kopietz

Der Besuch der alten Dame

Es war ungefähr zehn Tage vor Weihnachten, als die Geschichte begann. Dabei wollte Mama vor dem Abendessen nur noch eben zwei bis drei Kleinigkeiten im Einkaufszentrum in der Schmidtstraße besorgen. Das ist nicht weit. Und sie kam auch tatsächlich schon wenig später mit ihrer vollgestopften Leinentasche zurück. „Zugegeben“, meinte Mama, „aus den zwei bis drei Kleinigkeiten sind doch sechs bis sieben geworden.“ Und dabei grinste sie mich an wie ein Honigkuchenpferd. Ich liebe diese Geheimniskrämereien und das Bauchkribbeln so kurz vor Weihnachten.

Mamas Grinsen stand ihr beim Abendessen noch immer im Gesicht. „Hört euch diese Suchanzeige mal an!“ Sie hielt eine jener Karten von der Supermarkt-Pinnwand in der Hand. „Einsame alte Dame möchte an Weihnachten nicht allein sein. Wer hat ein großes Herz und lädt 84-Jährige zum Fest ein?“ Mama blickte stumm und erwartungsvoll in unsere kleine Runde. Was sollte ich, Amelie, 12 Jahre, dazu sagen? Unser letztes Weihnachtsfest kam mir in den Sinn: Nach Messe, Bescherung und Abendessen war es richtig gemütlich geworden. Bis in die Nacht hatten wir noch gespielt. Zu dritt, wann gab es das sonst? Insgeheim hatte ich mir das für dieses Fest wieder gewünscht. Und nun? Weihnachten mit einer alten Dame?

Ich sah meinen Vater an, der offensichtlich noch nachdachte. Seine Antwort traf mich wie ein Schlag: „Ein wunderschöner Gedanke, Laila. Die Dame soll bei uns ein frohes Fest erleben. In diesem Alter weiß man schließlich nie, ob es nicht das letzte ist.“ Da war die Entscheidung gefallen, bevor ich mich überhaupt dazu äußern konnte. Meinen Eltern schien gar nicht aufzufallen, dass meine Meinung noch ausstand, denn sie grinsten zufrieden. Ich aber konnte mir ein Augenrollen nicht verkneifen.

Noch am selben Abend sprach Mama am Telefon eine herzliche Einladung aus. „Sie klingt nett, diese Frau Neumann. Ich glaube, sie ist uns sehr dankbar. Sie ließ sich nicht einmal davon abbringen, sich um das Weihnachtsessen zu kümmern. Und sie lässt euch beide grüßen!“ Das fand Paps nun weniger prickelnd. Nicht, dass Frau Neumann uns grüßen ließ, sondern dass er in diesem Jahr erstmals auf seinen traditionellen Karpfen verzichten musste.

Die Tage bis Weihnachten verflogen wie nie. Mehr noch als sonst musste das Haus geputzt werden, damit am Heiligen Abend alles im Lichterglanz erstrahlte. Wichtiger als sonst war auch die Frage, was wir zur Heiligen Messe und der anschließenden Bescherung anziehen sollten. Und tagelang konnten sich meine Eltern nicht einigen, was sie für Frau Neumann auf den Gabentisch legen wollten. Schließlich entschieden sie sich für ein Lebenselixier aus der Apotheke.

Frau Neumann! Frau Neumann vorn, Frau Neumann hinten – von morgens bis abends gab es nichts anderes mehr. Für mich war und blieb sie nur die alte Dame. Ein Schreckgespenst, das im beigen Kamelhaarmantel mit hochnotpeinlichem Hut und einem breiten, zahnlosen Grinsen am Weihnachtsabend plötzlich vor unserer Tür erscheinen würde. Ein Schreckgespenst, das mir ein Päckchen mit selbst gehäkelten Topflappen überreichte, um mir einen höflich altmodischen Knicks dafür abzuverlangen … Ich konnte meine Fantasien kaum bremsen. Und doch wurde mein weihnachtliches Magenkribbeln von Tag zu Tag stärker.



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