Zores by Pittler A
Autor:Pittler, A [Andreas Pittler]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2012-04-10T22:00:00+00:00
II.
Freitag, 11. März 1938
Es war schon lange nach Mitternacht gewesen, als Bronstein endlich in sein Bett gekommen war. Und wenn er gehofft hatte, dadurch schneller einzuschlafen, so hatte er sich getäuscht. Zwar verhielt sich sein Körper weniger rebellisch als in der Nacht zuvor, doch sein Gehirn lieà ihm keine Ruhe. Gedanken über Gedanken drängten danach, gewälzt zu werden, und bei weitem nicht alle kreisten um den Fall Suchy.
Irgendwann, es mochte schon auf drei Uhr gegangen sein, war plötzlich die Frage in ihm gekeimt, wie es überhaupt so weit hatte kommen können. Normalerweise, so war ihm in den Sinn gekommen, bestand der Zweck eines Lebens doch darin, sich zu entwickeln. Zu wachsen. Auf Jahre des Lernens, Erkennens und Verstehens folgten solche der Entfaltung, ehe man das erworbene Wissen und die gewonnene Erfahrung an die nächste Generation weitergab. Man nahm seinen Platz in der Gesellschaft ein, machte Karriere und erwarb sich so Respekt und Anerkennung. Doch irgendetwas, so konstatierte er, war hier ganz fürchterlich schiefgelaufen. Die Zahl der Menschen, die ihn respektierten, die ihn anerkannten, mochte er an den Fingern einer Hand abzählen. Und von Karriere konnte schon überhaupt keine Rede sein.
Karriere! Was war das überhaupt? Dunkel erinnerte er sich daran, dass der Begriff aus der Reiterei stammte und so etwas wie gestreckten Galopp meinte. Ein Kavallerieoffizier stürmte also in der schnellstmöglichen Weise vorwärts, um auf direktem Wege sein Ziel zu erreichen. Nun, er saà wie weiland Sancho Panza auf einem störrischen Esel, der sich nicht nur weigerte, einen einzigen Schritt nach vorn zu machen, sondern der, objektiv betrachtet, nach hinten zurückwich.
Aber das passte ja, so meinte er, perfekt zu dem Land, dessen Bürger er war. Mit Ãsterreich ging es seit Menschengedenken nur bergab. Eine Erkenntnis, über die länger nachzusinnen es sich lohnte, befand er. Er setzte sich auf, stieg aus dem Bett und ging zu seinem Esstisch hin, wo er sich eine Zigarette nahm, die er dann im Dunkeln rauchte. Eigentlich war Ãsterreichs Aufstieg spätestens mit Ferdinand I. zu einem Ende gekommen. Was danach noch unter Erfolg zu verbuchen gewesen war, das fiel unter das sprichtwörtliche Massl, das Ãsterreich lange Zeit gehabt hatte. Ohne die Polen wäre Wien schon seit 250 Jahren osmanisch, und ohne die Engländer spräche man heute Französisch. In Wirklichkeit war Ãsterreich nur deshalb so lange eine Weltmacht gewesen, weil die anderen GroÃmächte die Donaumonarchie für eine solche gehalten hatten. Doch seit zwanzig Jahren ging es in jeder Beziehung nur noch abwärts. Ãsterreich war wie die âTitanicâ, es sank unausweichlich. Und er, Bronstein, war einer jener Passagiere, die keinen Platz in einem Rettungsboot mehr ergattert hatten.
Dabei waren die Zeichen doch unübersehbar gewesen! Auch und gerade für ihn, hatte er sich doch eigentlich stets mitten im Zentrum der Geschehnisse befunden. Der Brand des Justizpalastes vor knapp mehr als zehn Jahren. Die Auflösung des Parlaments fünf Jahre später. Die Bürgerkriege anno 34. Da musste doch jedem klar geworden sein, dass auf diese Weise kein Staat zu machen war!
Und jetzt erst dieser Schuschnigg! Nicht einmal in den finstersten Stunden der Monarchie hatte es so viele politische Gefangene gegeben! Ein Drittel unterdrückte die anderen beiden.
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