Zimtkuesse by Deniz Selek

Zimtkuesse by Deniz Selek

Autor:Deniz Selek [Selek, Deniz]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104014456
Herausgeber: Fischer E-Books
veröffentlicht: 2012-09-04T22:00:00+00:00


Heute Nacht träume ich von unserer Wohnung in Hannover. Auf Türkisch frage ich mich, warum die Räume so seltsam schief liegen. Als ich von meinem Zimmer in die Küche gehe, kippt die ganze Wohnung wie ein Ruderboot, das man einseitig belastet. Nur langsamer. Ich erschrecke fürchterlich. Gleich wird das Haus umstürzen. Ich lasse mich auf den Boden fallen und robbe vorsichtig auf den Flur. Die Wohnung neigt sich langsam in die Waagerechte. Aber jedes Mal, wenn ich mich in einen Raum schiebe, kippt sie wieder in die Richtung, in der ich gerade bin.

Dann klingelt es. Ich brauche Ewigkeiten bis zur Tür.

Es klingelt und klingelt. Der Ton wird immer tiefer und wütender. Ich liege im Flur vor dem Eingang und kann mich nicht aufrichten, weil ich Angst habe, dass das Haus umkippt. Das Klingeln wird zu einem lauten Poltern und Krachen. Holz splittert, und durch das Loch in der Tür windet sich Baba hinein. Ich freue mich so sehr, ihn zu sehen, er wird mich retten, mir heraushelfen. Ich will schon nach ihm greifen, als ich sehe, dass er ein Geschwür an der Seite hat. Er zieht es mit in die Wohnung, und daran hängt meine Ma. Sie sind miteinander verwachsen wie siamesische Zwillinge, meine Eltern. Verbunden durch dieses Ding, in dem dunkle Haare sprießen und sich ein Loch zu einem Mund mit großen Zähnen formt. Ich will schreien, aber es kommt kein Ton. Ich will, dass meine Eltern mich sehen, aber ich habe Todesangst vor dem Geschwür in ihrer Mitte.

Es kommt mir irgendwie bekannt vor, und das macht es noch bedrohlicher. Ich kenne es und weiß nicht, woher.

Da berührt mich etwas, und ich schrecke hoch.

»Was ist denn los, Güzelim?« Babaanne streicht über meine Stirn. »Du bist ja ganz nass! Hast du schlecht geträumt?«

Was macht sie hier? Es dauert einen Moment, bis ich weiß, wo ich bin. Mein Herz klopft heftig. Ich lasse mich in das Kissen zurücksinken. Nur ein Traum. Nur ein böser Traum.

»Du armes Kind! Kein Wunder, dass du bei diesem Lärm Albträume bekommst!«

Erst jetzt nehme ich die Geräusche wahr, die durch das geschlossene Fenster dringen. Ein Bagger oder Bulldozer donnert gegen etwas Hartes. Fährt vor und zurück. Es piept und rumpelt. Die Parfümfläschchen auf der Kommode klingeln aneinander. Metall scheppert und quietscht. Vibriert mit einem langgezogenen Stöhnen durch jede Ritze des Raumes. Glas klirrt und knirscht. Die Monster sind bereits am Werk. Machen alles tot. Machen alles kaputt. Heute schon. Ich halte mir die Ohren zu. Gut, dass die Vorhänge geschlossen sind.

»Komm, steh auf«, ruft Babaanne gegen das Getöse und fasst mich am Arm. »Wir gehen spazieren.«



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