Wir riechen besser als wir denken - Wie der Geruchssinn Erinnerungen praegt Krankheiten vorhersagt und unser Liebesleben steuert by Johannes Frasnelli

Autor:Johannes Frasnelli [Frasnelli, Johannes]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Molden Verlag
veröffentlicht: 2019-10-15T16:00:00+00:00

Natürlich schmecken Gummibärchen sehr künstlich. Ihr Vorteil ist aber, dass die verschiedenen Farben unterschiedliche Duftaromen haben, sich aber hinsichtlich ihrer Textur nicht voneinander unterscheiden, wie zum Beispiel unterschiedliche Obstsorten es tun. Die Textur trägt nämlich auch zur Aromenwahrnehmung bei. Bei einem gut designten Experiment sollte man nur eine einzige Variable verändern, hier das Duftaroma. Der Vergleich ist daher besser als der von Äpfeln und Birnen, weil sich im ersten Fall die Reize nur durch ihr Duftaroma unterscheiden, und im zweiten Fall durch ihr Duftaroma und die Textur.

Obwohl der Zugang vom Rachen in den Nasenraum eigentlich nicht behindert wird, wenn man sich die Nase zuhält, kann die Luft mit den Duftstoffen aus dem Mund- und Rachenraum nicht einfach in den Nasenraum eindringen, weil sich schon Luft darin befindet. Er ist ein sogenannter Totraum. Damit dringen die Duftstoffe nicht zur Riechschleimhaut vor und wir nehmen sie somit nicht wahr. Der Sinneseindruck kommt in diesem Fall also nur vom Geschmackssinn. Sobald wir die Nase loslassen, kann die Luft aus dem Rachenraum in die Nase eindringen und die Duftstoffe gelangen zur Riechschleimhaut. Somit gesellt sich die Riechdimension zum Geschmackseindruck. Interessant an dem Phänomen ist, dass wir nicht merken, dass wir Duftreize wahrnehmen. Stattdessen projizieren wir den Sinneseindruck auf den Mund. Wir haben das Gefühl, dass die Orange nach Orange „schmeckt“ und nicht dass sie nach Orange „riecht“. Tatsächlich „schmeckt“ die Orange aber nur süß und sauer, erst ihr Duftaroma komplettiert den Sinneseindruck. Wenn wir den Geruchssinn verlieren, verlieren wir somit auch die Wahrnehmung der Düfte aus dem Mundraum.

Das erklärt auch, was passiert, wenn wir erkältet sind. Durch die verstopfte Nase ist der Luftaustausch aus dem Rachen in den Nasenraum stark behindert. Duftstoffe aus dem Mund gelangen nicht in den Nasenraum und somit nicht zur Riechschleimhaut. Wir nehmen während des Essens auf einmal nur mehr die fünf Geschmacksrichtungen wahr und keine Duftreize mehr. Weil die Duftkomponente aber so wichtig ist, haben wir das Gefühl, dass alles irgendwie fade schmeckt. Das Problem ist also nicht, dass wir wegen der Erkältung nichts mehr schmecken, sondern dass wir wegen der Erkältung nichts mehr riechen. Der liebe Mensch, der uns eine Hühnerbrühe gemacht hat, hat nicht etwa verlernt zu kochen – wir sind nicht in der Lage, sie richtig zu genießen, weil wir sie nur unvollständig wahrnehmen. Sollten wir uns beschwert haben, wäre es angebracht, uns zu entschuldigen.

Auch viele andere Erkrankungen und Störungen können, neben einer Erkältung, den Geruchssinn beeinträchtigen. Dazu gehören Infektionen und Schädel-Hirn-Traumen genauso wie die Alzheimer- oder die Parkinsonerkrankung. Vielleicht sind die vielen Klagen über die Qualität des Essens in Krankenhäusern und Pflegeheimen nicht immer der mangelnden Kochkunst des Küchenteams geschuldet, sondern dem, dass viele Esser einfach nicht gut oder gar nichts mehr riechen können. Vielleicht sollten wir uns auch da hie und da entschuldigen?

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