Winterkind by L Mer

Winterkind by L Mer

Autor:L Mer [Mer, L]
Die sprache: deu
Format: mobi, epub
ISBN: 9783941408371
veröffentlicht: 2012-09-19T13:15:44+00:00


Als Elsbeth am nächsten Morgen verschwunden war, fragte das kleine Mädchen nach ihr. Sie war ihm die liebste Spielkameradin gewesen, immer, wenn die Köchin nicht aufpasste. Hatte ihm Lieder beigebracht, so schaurig-schöne, wie sie unten in der Küche gesungen wurden; hatte ihm Kränze geflochten aus Gänseblümchen. Hatte auch nie gepetzt, wenn man sich doch wieder zum Spielen in den Wald gestohlen hatte …

„Ist sie fort?“, fragte das kleine Mädchen, beharrlich und immer wieder. „Kommt sie denn nicht zurück?“ Es fragte immer weiter, obwohl die Stirn der Mutter sich drohend zu runzeln begann; es war, als ob es nicht aufhören könnte zu fragen. Es fragte so oft und so lange, dass die Mutter schließlich zornig wurde. Sie verbot dem kleinen Mädchen, jemals wieder von Elsbeth zu sprechen. Und als das Mädchen anfing zu weinen und sich nicht beruhigen wollte, schickte sie nach dem Doktor, der ihm eine Tinktur eingab. Da war das Mädchen still.

Nur der Puppe erzählte es, was es niemandem erzählen konnte. Der Puppe, die ja dabei gewesen war. Am Vortag, als die Mutter es aus dem Turmzimmer geschickt hatte. Als es ins Kinderzimmer hatte gehen sollen. Und nicht gegangen war. Wegen der Neugier, der dummen Neugier! Es erzählte der Puppe von der offenen Turmzimmertür, durch die man alles hören konnte, was drinnen gesprochen wurde; erzählte ihr davon, obwohl die Puppe doch längst alles wusste. Erzählte ihr auch von dem schrecklichen Schluchzen, das irgendwann dort drinnen angefangen hatte, und davon, wie man sich gegen kalte Mauersteine schmiegen musste, um nicht entdeckt zu werden, wenn jemand plötzlich aus dem Turmzimmer kam. Jemand, der dann schluchzend die Wendeltreppe hinunterstieg, so schwerfällig wie ein Kranker – und der nicht wiederkehrte.

Aber die Glasaugen der Puppe sahen das Mädchen streng an, und irgendwann verstand es, was sie ihm sagen wollten. Es hörte auf, von Elsbeth zu erzählen. Und es versprach der Puppe, nie wieder so ungehorsam zu sein. Dann setzte es sich in einen Winkel und kämmte die Puppe, kämmte sie so lange, bis ihr das kostbare echte Menschenhaar in großen Büscheln ausfiel.

Aber das Versprechen half nicht. Elsbeth kam nicht wieder. Und alles wurde anders im Schloss.

Der Vater kam nur noch ganz selten nach Hause, und wenn er da war, scherzte er nicht mehr mit seiner Tochter wie früher, sondern hielt sie nur ein Weilchen traurig im Arm, ohne ein Wort zu sagen. Das Mädchen verstand seine Traurigkeit nicht. Die Mutter sah niemals traurig aus. Nicht einmal, wenn der Vater sich abwendete, sobald sie einen Raum betrat. Dann lachte sie und tat, als habe er es zum Scherz getan. Der Vater lachte nicht mit.

Die Mutter schalt das Mädchen, wenn er wieder fort war. Es sei zu groß, um noch auf seinem Schoß zu sitzen, zu groß, um in seinen Haaren zu zausen. Zu groß auch längst, um noch an Mutters Rockzipfel zu hängen; zu groß für Wiegenlieder und für Puppenspiele. Die Spielsachen wurden in eine Truhe eingeschlossen, im Turmzimmer, hinter dem Spiegel; nur die eine Puppe mit den ausgekämmten Haaren konnte das Mädchen unter seinem Bett verstecken.



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