Vergewisserungen by Schlink Bernhard

Vergewisserungen by Schlink Bernhard

Autor:Schlink, Bernhard [Schlink, Bernhard]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257603897
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-01-13T00:00:00+00:00


IV.

Aber Heine war ein politischer Schriftsteller. Ihn lesen und das wissen ist eins. Die Irritation und die anschließenden Überlegungen laufen nicht darauf hinaus, daß Heine kein politischer Schriftsteller war. Sie laufen auch nicht darauf hinaus, daß er ein gescheiterter politischer Schriftsteller war. Sie lehren vielmehr, den Begriff des politischen Schriftstellers besser zu fassen.

»Philosophie«, so schreibt der von Heine verehrte Georg Wilhelm Friedrich Hegel, »ist ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit.« Auch Literatur ist ihre Zeit in Gedanken erfaßt, genauer in Geschichten, in langen und in kurzen, in Stücken, in Gedichten. Keine Literatur geht über ihre Welt hinaus, und kein Schriftsteller überspringt seine Zeit. Nicht daß dieses Verhaftetsein in Welt und Zeit und in deren politischen Verhältnissen jede Literatur zur politischen Literatur und jeden Schriftsteller zum politischen Schriftsteller machen würde. Dazu bedarf es der Wahrnehmung der politischen Verhältnisse und des Bewußtseins von ihnen; die politische Literatur und der politische Schriftsteller sind sich ihrer bewußt, zielen auf sie und machen sie bewußt. Aber das ist auch alles.

[190] Denn »um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu verlieren, so kommt dazu ohnehin die Literatur immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sie fertig gemacht hat«. Auch das ist Hegel; ich habe nur »Literatur« an die Stelle von »Philosophie« gesetzt. Es erklärt den irritierenden Befund, daß Heines Schriften die Rückständigen nicht belehrt haben, sondern nur noch rückständiger haben werden lassen und insofern, als kämpferisch-emanzipatorische Belehrung verstanden oder vielmehr mißverstanden, gescheitert sind.

Zugleich haben sie die Fortschrittlichen noch fortschrittlicher werden lassen. Daß Literatur zum Belehren, wie die Welt sein soll, zu spät kommt, und daß sie erst in die Welt tritt, wenn die Wirklichkeit vollendet ist, heißt nicht, daß sie rückwärtsgewandt wäre. Es heißt, daß sie nicht mehr kann, als uns der Wirklichkeit zu vergewissern, der Welt und der Zeit und unseres Ortes darin. Da unsere Orte verschieden sind, vergewissert sie uns auch verschieden, den Spießer seines Spießertums, den Nationalisten seines Nationalismus, den Frömmelnden seiner Frömmelei und den Freiheitsliebenden seiner Freiheit. Sie vergewissert und radikalisiert uns, denn wo wir gewisser sind, sind wir auch radikaler.

Statt von Radikalität läßt sich auch von Authentizität reden. Je authentischer Literatur ihre Zeit in Gedanken, Geschichten, Stücken und Gedichten faßt, desto authentischer macht sie auch den Leser in dem, was er in seiner Zeit ist. Dabei meint Authentizität der Literatur nicht Getreulichkeit des Abbildens und nicht Tauglichkeit als zuverlässige [191] historische Quelle; darin ist die Literatur aus dem zweiten Glied allemal besser als die aus dem ersten. Sie meint das Erfassen der Zeit unter ihrer abbildbaren Oberfläche – bis hin zum Erfassen dessen, was in der Zeit erst angelegt ist und nur visionär geahnt werden kann. In seinen düsteren politischen Visionen begegnet uns Heine als politischer Schriftsteller besonders groß.



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