Sterbestunde by Michael Hübner

Sterbestunde by Michael Hübner

Autor:Michael Hübner [Hübner, Michael]
Die sprache: deu
Format: epub


25

Sandra war spät dran. Sie hatte die Ernährungspläne für die kommende Woche bearbeitet und konnte es kaum erwarten, sie abzugeben. Seit drei Tagen studierte sie jetzt Ernährungstabellen, medizinische Datenblätter, Bedarfs- und Kalorienregister. Themen wie »Fettersatz«, »Laktovegetabile Ernährungsweise«, »Diabetiker-Ersatzstoffe« und »Regionale Bezugsquellen« hatten ihre letzten Konzentrationsreserven erschöpft. Dazu kam noch die unerträgliche Hitze. Sie sehnte sich nach einem entspannenden Kräuterbad und einem Roman auf der Couch. Eigentlich dürfte sie es gar nicht zugeben, aber nach all diesen Gedanken über Diätkost und ausgewogene Ernährung verspürte sie einen beinahe unbändigen Appetit auf einen Burger mit reichlich Pommes und Ketchup. Aber zuerst musste sie diese Pläne loswerden. Ein wöchentliches Ritual, das sich diesmal als schwierig erweisen würde. Normalerweise gab sie sie Hofer zum Unterzeichnen. Doch da niemand etwas über seinen Verbleib wusste, würde daraus nichts werden. Allmählich machte sie sich Sorgen um ihn. Die wildesten Gerüchte machten bereits die Runde. Das harmloseste war, dass er einfach weggegangen war. Aber selbst wenn dies zutraf, wäre er sicher der Letzte gewesen, der persönliche Dinge wie Familienfotos und Auszeichnungen seinem Nachfolger überlassen hätte. Und wer sollte das sein?

Plötzlich hatte Sandra das Gefühl, sich auf einem führerlosen Schiff zu befinden. Doch sie war zu erschöpft, um weiter darüber nachzudenken. Die einschneidenden Veränderungen der letzten Wochen waren auch an ihr nicht spurlos vorübergegangen. Der Umzug, die Trennung von Sven … Ein Schritt, der ihr nicht leichtgefallen war. Aber was hätte sie tun sollen? Sich den Rest ihres Lebens verstellen? Sie wäre sich vorgekommen wie ein Fisch in einem Aquarium, gefangen in einer Scheinwelt. Trotzdem tat es ihr in gewisser Weise leid. Nein, er tat ihr leid. Und dann noch der Tod seines Freundes. Am liebsten hätte sie ihn in den Arm genommen, ihm ein wenig von ihrer Kraft gegeben. Doch sie wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen. Dieses Kapitel war abgeschlossen, und es würde keine Fortsetzung geben. Und natürlich war ihr klar, dass es schwer sein würde, mit ihm befreundet zu bleiben. Besonders wenn die Kluft so groß war wie zwischen ihnen. Man nahm sich zwar fest vor, nicht alle Brücken abzureißen, doch was übrig blieb, reichte meist nur zu einem verlegenen »Hallo«. So war das nun mal, wenn man sich nichts mehr zu sagen hatte. Es lag nicht in ihrer Macht.

Mit einer Büroklammer heftete sie einen kleinen Zettel mit der Aufschrift »Dringend« an ihre Pläne und legte sie auf den Schreibtisch von Hofers Sekretärin. Die würde schon wissen, was sie damit anfangen sollte. Arme Sonja, dachte sie. An ihr bleibt vermutlich alles hängen. An ihr und Mario, dem Küchenchef, mit dem sie bestimmt morgen früh wieder eine lebhafte Auseinandersetzung über ihre »Speisepläne« führen durfte.

Sie seufzte erlöst, als sie zu den Fahrstühlen ging. Die Büros waren um diese Zeit menschenleer, und sie genoss die Ruhe, als sie plötzlich ein Knarren hörte. Wie von einem Bürostuhl, dessen Lehne seit Jahren nicht geölt worden war. Es drang durch die geschlossene Tür von Hofers Büro.

Verwundert trat Sandra zu der Tür, klopfte zweimal verhalten an und lauschte gespannt. »Herr Hofer?«

Wieder das Quietschen, diesmal heftiger.



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