Schrei nach Freiheit by Samar Yazbek

Schrei nach Freiheit by Samar Yazbek

Autor:Samar Yazbek
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783312005345
Herausgeber: Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag München
veröffentlicht: 2012-01-27T05:00:00+00:00


Freitag, 20. Mai 2011

Freitags fühle ich mich frei und unbeobachtet. Alle sind mit den Demonstrationen beschäftigt. Den heutigen Freitag haben die Demonstranten Azadi genannt, das kurdische Wort für Freiheit. Die Kurden sind in Massen auf die Straße gegangen, obwohl man ihnen die Staatsbürgerschaft gewährt hat. Das Regime glaubte, die Kurden mit dieser Staatsbürgerschaft bestechen zu können, aber hatte sich geirrt. Seit heute Morgen gibt es aus Kamischli und Amouda Meldungen über Massen von Menschen, die sich auf die Demonstration vorbereiten. Auch eine dichte Präsenz von Sicherheitskräften wird gemeldet. In unzähligen Botschaften, die mich über E-Mail und Facebook erreichen, fragt man mich, wie es mir gehe und wie die Haltung der Intellektuellen gegenüber der alawitischen Religionsgemeinschaft aussehe. Und ich, die ich durch jedes meiner Worte bedroht bin, meine, dass man diesen jungen Männern und Frauen unbedingt etwas sagen muss. Also habe ich auf meiner Facebook-Seite Folgendes geschrieben:

«Wenn wir dafür, dass wir die Wahrheit aussprechen, mit unserem Leben bezahlen müssen, dann ist das unser Los. Dies ist ein natürlicher Vorgang auf dem Weg zu einer gerechteren menschlichen Existenz. Das Regime versucht in diesem historischen Augenblick angesichts des Blutvergießens in Syrien zu suggerieren, dass die Protestbewegung des Volkes eine konfessionelle Prägung hat. Das ist eine Fälschung der Tatsachen. Trotz der Maßnahmen, deren Motive bekannt sind, die Städte militärisch nach Religionsgemeinschaften zu unterteilen und gezielt Viertel bestimmter Religionsgemeinschaften zu beschießen, und trotz der Einschüchterung und der Diffamierung eines jeden freien syrischen Bürgers, der zur Gemeinschaft der Alawiten gehört, sage ich zu allen jungen Frauen und Männern anderer Religionsgemeinschaften, die mir lange Briefe darüber geschrieben haben, dass wir hier – und ich weiß, dass es noch andere außer mir gibt – unser Leben in ihre Hände legen und uns ihnen anschließen. Die Angst vor dem Ausbruch eines konfessionellen Bürgerkriegs ist durchaus berechtigt. Das wird möglicherweise der Preis sein, den wir bezahlen müssen, wenn die Sprache der Gewalt und das Töten ihren Weg bis zum Ende gehen. Was haben wir mehr als unser Leben?»

Ich kehre wieder zu meinem Tagebuch zurück, um den folgenden Vorfall zu notieren, den mir ein Mann aus Deraa erzählt hat. Der Mann errötete, bevor er zum Himmel blickte und sagte: «Gott, wo bist du?» Dann berichtete er:

«Die Leichen wurden in das Tischreen-Militärkrankenhaus gebracht. Schwerverletzte und manchmal auch Personen mit nur leichten Verletzungen, zu denen beispielsweise auch ein junger Mann gehörte. Er lag in seinem Bett, während ich an einem anderen Bett stand, als ein Geheimdienstoffizier das Zimmer betrat. Er war in Zivil und setzte sich neben den Verwundeten. Sie sprachen miteinander, anfangs habe ich nicht verstanden, worum es ging, aber dann näherte ich mich dem Verwundeten und lauschte dem Gespräch. Der Offizier fragte: ‹Wer hat auf dich geschossen?› Als der Verwundete schwieg, fragte der Offizier: ‹Die bewaffneten Banden?› Der Verwundete schwieg weiter. Da sagte der Offizier: ‹Du wirst im Fernsehen sagen, dass die bewaffneten Banden auf dich geschossen haben.› Nun blickte der Verwundete dem Offizier ins Gesicht und entgegnete: ‹Die Sicherheitskräfte haben auf mich geschossen.› Da drohte der Offizier streng: ‹Die bewaffneten Banden haben auf dich geschossen.



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