Scheintot by Tess Gerritsen

Scheintot by Tess Gerritsen

Autor:Tess Gerritsen
Die sprache: de
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2012-01-09T23:00:00+00:00


19

Mila

Weder Olena noch ich kennen den Weg.

Wir sind noch nie durch diesen Wald gegangen, und wir wissen nicht, wo wir herauskommen werden. Ich trage keine Strümpfe; schon bald dringt die Kälte durch meine dünnen Schuhe. Trotz des Rollkragenpullis und der Strickweste der Mutter friere ich und zittere am ganzen Leib. Die Lichter des Hauses sind hinter uns verschwunden, und wenn ich mich umdrehe, sehe ich nur noch den finsteren Wald. Auf tauben Füßen schleppe ich mich durch das gefrorene Laub, den Blick stur auf die Silhouette von Olena gerichtet, die vor mir geht und die Tasche trägt. Mein Atem ist wie Rauch. Das Eis knackt und knirscht unter unseren Sohlen. Ich denke an einen Kriegsfilm, den ich einmal in der Schule gesehen habe, an die Bilder von frierenden und ausgehungerten deutschen Soldaten, die durch den Schnee zur russischen Front wankten, ihrem Verhängnis entgegen. Nicht stehen bleiben. Keine Fragen stellen. Immer weitermarschieren – das müssen diese verzweifelten Soldaten gedacht haben. Und dasselbe denke ich nun, während ich durch diesen Wald stolpere.

Plötzlich blitzt vor uns ein Licht auf.

Olena bleibt stehen und hebt den Arm. Ich halte auch an, und wir stehen still wie die Bäume, während wir zusehen, wie die Lichter vorüberziehen, während wir das Rauschen von Reifen auf nassem Asphalt hören. Wir zwängen uns durch das letzte Stück Unterholz, und dann haben wir auf einmal festen Boden unter den Füßen.

Wir haben eine Straße erreicht.

Inzwischen sind meine Füße von der Kälte so gefühllos, dass meine Bewegungen immer unbeholfener werden und ich nur mühsam mit ihr Schritt halten kann. Aber Olena stapft unbeirrt weiter, gleichmäßig wie ein Roboter. Wir sehen die ersten Häuser, doch sie bleibt nicht stehen. Sie ist der General, und ich bin nur ein einfacher Fußsoldat; und so folge ich einer Frau, die auch nicht mehr weiß als ich.

»Wir können doch nicht ewig so weitergehen«, sage ich.

»Wir können auch nicht hier bleiben.«

»Schau, in dem Haus da brennt Licht. Wir könnten die Leute um Hilfe bitten.«

»Nicht jetzt.«

»Wie lange sollen wir denn noch weitergehen? Die ganze Nacht, die ganze Woche?«

»So lange, wie wir müssen.«

»Weißt du überhaupt, wo wir hingehen?«

Plötzlich dreht sie sich um, und ihr Miene ist so wutentbrannt, dass ich erstarre. »Weißt du was? Ich habe die Schnauze voll von dir! Du bist nichts als ein kleines Baby. Ein dummes, verschrecktes Angsthäschen.«

»Ich will doch nur wissen, wo wir hingehen.«

»Du kannst immer nur jammern und rummeckern! Mir reicht’s jetzt. Ich bin fertig mit dir.« Sie greift in die Tasche und holt das Bündel amerikanischer Banknoten hervor. Sie zerreißt das Gummiband und drückt mir die Hälfte des Geldes in die Hand. »Da, nimm das, und geh mir aus den Augen. Wenn du so schlau bist, dann sieh doch selbst zu, wo du bleibst.«

»Warum tust du das?« Ich spüre, wie mir die heißen Tränen in die Augen steigen. Nicht, weil ich Angst habe, sondern weil sie meine einzige Freundin ist. Und weil ich weiß, dass ich im Begriff bin, sie zu verlieren.

»Du bist nur ein Klotz an meinem Bein, Mila. Du hältst mich auf. Ich will nicht die ganze Zeit auf dich aufpassen müssen.



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