Restlicht by Rausch Jochen

Restlicht by Rausch Jochen

Autor:Rausch, Jochen [Rausch, Jochen]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: General Fiction
Herausgeber: eBook by Kiepenheuer&Witsch
veröffentlicht: 2015-03-16T16:00:00+00:00


31

Samstag,

6. September 1975

Es war das erste Mal, dass ich das Mittelmeer sah, und ich wünschte mir, die Aussicht genießen zu können. Den Blick auf die tiefblaue See mit den sich auf den Wellen kräuselnden Schaumkronen. Die Luft war warm und frisch, über der Ägäis kreischten die Möwen und lauerten auf Abfälle.

Weil der Wind drehte und den schwarzgrauen Qualm des Diesels über das Oberdeck trieb, gingen wir nach unten. Hans kaufte Sprudelwasser. Endlich verlor die Fähre an Fahrt, drehte bei und stampfte in den Hafen. Die griechischen Seeleute hatten es eilig und drängten uns mit lauten Flüchen aus dem Bauch des Schiffes. Hans stolperte über ein Tau, schlug sich das Knie auf.

Die Mittagshitze stand flirrend über dem Hafen. Die Wirte stellten sich uns in den Weg, schwenkten Fotos ihrer Pensionen. Mit energischen Handbewegungen gab Hans zu verstehen, dass er nicht an einem Fremdenzimmer interessiert war.

Im Hafen stank es nach verfaultem Fisch und dem Schiffsdiesel. Die jungen Leute, die mit uns von Bord gegangen waren, trugen die Haare lang bis auf die Schultern. Ihr Gepäck schleppten sie in Rucksäcken. Astrid würde nicht weiter auffallen unter diesen Typen, dachte ich. Aber ich hoffte, dass sie diese Insel nie betreten hatte.

Ein paar Straßen weiter ertappte ich mich dabei, wie ich trotzdem nach ihr Ausschau hielt. Ob sie nicht vielleicht doch unter den Hippies war, die lächelnd oder stoned herumstanden, auf die nächste Fähre oder besseren Stoff warteten. Und dann sah ich sie tatsächlich.

»Da ist sie ja«, hörte ich mich sagen, schüttelte Hans ab, der noch meinen Arm fassen wollte, drängelte kopflos durch die dichte Menschenmenge in der Bazarstraße, holte das Mädchen ein, lief an ihm vorbei.

Aber es war nur irgendein fremdes Mädchen mit ausladenden Wangenknochen und dunkelbraunen Augen. Es sah mich argwöhnisch an, während ich versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. Ich murmelte etwas zur Entschuldigung, aber da war sie schon ausgewichen und in der Menschenmenge verschwunden.

»Junge«, sagte Hans, als er mich einholte.

Er legte seine Hand auf meine Schulter. Und ich dachte daran, dass wir nicht gekommen waren, Astrid unter den Lebenden zu suchen, sondern unter den Toten.

Schweigend gingen wir weiter, und je näher wir unserem Ziel kamen, umso zögerlicher wurden wir. Vielleicht, weil wir nie an unserem Ziel ankommen wollten. Bei einem Straßenhändler kauften wir Wasser. Hans reinigte die Wunde an seinem Knie, dann bahnten wir uns einen Weg durch die Menschen, die sich um die Marktstände drängten. Vor dem weiß getünchten Haus zündeten wir uns Zigaretten an. Wir hatten es schon so oft gesagt, im Flugzeug, auf der Fähre, trotzdem wiederholten wir es noch einmal wie ein Gebet.

»Ich glaube es nicht«, sagte ich, »sie hat immer nur von Spanien geredet. Nie von Griechenland!«

»Du weißt nicht, was passiert ist«, sagte Hans.

»Aber ich glaube es trotzdem nicht!«

»Ich hoffe, du hast recht!«, sagte er. Dann schlug er mit dem Klopfer gegen die Tür.

Sie wurde viel zu schnell geöffnet, und wenige Augenblicke später umgab uns in der Eingangshalle des Hauses eine dunkle, sakrale Stille. Das Entree war kühl und kaum erleuchtet, alles war nur schemenhaft zu erkennen. Eine junge Frau ließ Hans ein Formular ausfüllen.



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