Nachtschwarze Sonne by Narcia Kensing

Nachtschwarze Sonne by Narcia Kensing

Autor:Narcia Kensing [Kensing, Narcia]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Paranormal
veröffentlicht: 2014-07-28T22:00:00+00:00


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Die Straßen von Manhattan sind für gewöhnlich menschenleer, nur mit Glück trifft man auf einzelne Personen, die immer in Eile zu sein scheinen, um möglichst schnell ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Das liegt auch daran, dass es nicht gerade ungefährlich ist, erst recht, wenn man sich allein in den Gassen herumtreibt. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass die Hemmschwelle der Menschen umso niedriger zu liegen scheint, je weniger sie besitzen. Zwar versucht das System, Kriminalität durch absolute Gleichheit der Einwohner einzudämmen, aber es gibt dennoch immer wieder Tote zu beklagen. Manchmal ging es bei den Streitigkeiten um nicht viel mehr als einen neuen Anzug oder illegale Tauschwaren.

Dennoch habe ich heute Glück, auf mehrere Einwohner von Bezirk einunddreißig zu treffen. Eine ganze Gruppe von Bauarbeitern, die beim Wiederaufbau der Stadt helfen, sind damit beschäftigt, Schutt aus dem Erdgeschoss eines roten Backsteingebäudes zu karren. Zunächst zögere ich, sie anzusprechen, doch als einer der dreckverschmierten Männer mich bemerkt, setzt er sogleich seine Schubkarre ab und sieht ehrfürchtig zu Boden. Mir ist es unangenehm, mit so viel Respekt behandelt zu werden. Ich bin eine Achtzehnjährige, der Mann vor mir ist mindestens doppelt so alt und zwei Köpfe größer. Ich bemühe mich, selbstsicher zu klingen und frage ihn, ob er eine Frau mit der Individuennummer 6-31 oder einen Mann mit der Nummer 29-31 kennt, doch er verneint. Auch seine Kollegen können mir nicht weiterhelfen, also bedanke ich mich und setze meinen Weg fort. Allmählich frage ich mich, ob mein Unternehmen nicht ein wenig zu waghalsig war. Immerhin sollen beide schon vor Jahren verschwunden sein, vielleicht sogar vor Jahrzehnten. Was verspreche ich mir eigentlich von der Aktion? Glaube ich tatsächlich, das Geheimnis meiner Andersartigkeit lüften zu können?

Ich befrage noch vier weitere Personen, eine davon ein Kind von vielleicht acht Jahren, doch niemand kann oder will mir Auskunft darüber erteilen, wer 6-31 war. Es kann doch nicht sein, dass sich niemand mehr daran erinnert! Sie muss hier gelebt haben, im einunddreißigsten Bezirk.

Resigniert schlendere ich die Eighth Avenue herunter, als sich das Funkgerät in meinem Rucksack meldet. Hastig sehe ich auf die Uhr. Über die Hälfte der Zeit ist schon verstrichen, und bislang habe ich noch nichts erreicht. Wenn ich Carl und Candice noch besuchen möchte, muss ich meine Suche wohl oder übel bald abbrechen.

»56-2 benötigt Hilfe in der einundzwanzigsten Straße. Hier liegt eine fast vollständig verweste Leiche. Habe schon einen Container bestellt, aber ich schaffe das nicht allein«, tönt eine weibliche Stimme blechern aus dem Lautsprecher. Ich beschließe, den Aufruf einfach zu ignorieren. Ich wäre mindestens zwanzig Minuten unterwegs, wenn ich schnell laufe. Außerdem liegt es mir fern, mich an der Bergung einer Leiche zu beteiligen. Brrr. Ich versenke das Funkgerät wieder im Rucksack.

Ich hebe den Blick und sehe mich um. Die hässlichen grauen und mit Farbe beschmierten Häuserfassaden verbreiten eine schauerliche Weltuntergangsstimmung, die mir in der Vergangenheit nie so deutlich aufgefallen ist. Abgebrochene Scherben ragen wie Zähne aus den Fensterrahmen unzähliger Häuser, der Wind pfeift um die Häuserecken und es riecht unangenehm nach Müll und Unrat.



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