Liebe dich selbst und die anderen werden dich gernhaben by Fabrice Midal

Liebe dich selbst und die anderen werden dich gernhaben by Fabrice Midal

Autor:Fabrice Midal
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
veröffentlicht: 2019-01-15T00:00:00+00:00


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11Augustinus, Bekenntnisse, München (11) 2010, S. 90.

12Thomas von Kempen, Das Buch von der Nachfolge Christi, Stuttgart 1980, S. 11.

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Sich lieben heißt, ganz Ja zu sich sagen

Indem ich tauchte, habe ich wieder zu mir gefunden, ich stimmte mit mir überein, nicht mehr als Beobachter, als Voyeur, sondern als zu mir selbst Zurückgekehrter.

Henri Michaux

Ich liebe meine beste Freundin. Ich liebe sie nicht nur, wenn sie in Topform, gut gelaunt und schick gewandet ist, sondern ich liebe sie so, wie sie ist. Doch meine Liebe ist keine Affenliebe – denn sonst würde sie aufhören, Liebe zu sein, und zu etwas Ungesundem werden. Ich kenne ihre Stärken, genauso wie ich ihre Schwächen kenne. Über manche ihrer Schwächen spöttele ich, in anderen Fällen rate ich ihr, ein bisschen aufzupassen. Ich sage ihr, wenn ich glaube, dass sie eine Dummheit oder einen Fehler gemacht hat. Wenn sie etwas falsch gemacht hat, dränge ich sie, das wieder in Ordnung zu bringen, ohne sie zu verurteilen oder zu beleidigen. Doch bei unseren Gesprächen geht es nicht primär um solche Dinge. Ich freue mich einfach, dass es sie gibt, dass sie auf der Welt ist. Ihr Wesen, die Art, wie sie ist, tut mir gut. Ich sage zu ihr mit allen ihren Stärken und Schwächen Ja, bedingungslos Ja. So wie ich zu meinem Partner, meinen Kindern, meinem Nachbarn, meinem Kollegen Ja sage.

Ich weiß, dass ich diese Menschen liebe, weil es Augenblicke gibt – wenn ich mit ihnen zusammen bin oder an sie denke –, in denen mir das zutiefst bewusst wird. Aber dieses Gefühl bemisst sich nicht an seiner Heftigkeit, mein Herz fängt nicht wie wild an zu schlagen, wenn ich sie sehe. Was ich für sie empfinde, hat nichts mit Leidenschaft zu tun, sondern ist viel mehr als das: eine beständige Liebe, die man, wenn man sie denn unbedingt messen wollte, mit der Elle des Vertrauens und des Glücks messen müsste, das ich häufig (aber durchaus nicht immer!) in ihrer Gesellschaft spüre. Ich freue mich, wenn ich sie sehe.

Natürlich gibt es Augenblicke, da würde ich sie alle am liebsten auf den Mond schießen: mein Kind, weil es gerade wieder extrem trotzig ist; meinen Partner, weil er jetzt schon das zweite Mal in diesem Monat seine Schlüssel verloren hat; meine Freundin, die schmollt, weil ich keine Zeit hatte, mit ihr essen zu gehen. Manchmal gehen sie mir echt auf die Nerven, und manchmal kann ich sie einfach nicht um mich haben. Aber am Ende zählt das alles nicht, und ich möchte wieder mit ihnen zusammen sein. Ich liebe sie, ohne eine Gegenleistung dafür zu erwarten, wenn auch nicht immer gleich intensiv oder auf die gleiche Weise, denn so ist das menschliche Herz nun mal.

Stetig auf höchster Stufe lodernde Liebe existiert nur in Kitschromanen. Etwas anderes behaupten zu wollen führt nur zu überflüssigen Schuldgefühlen. In Wirklichkeit ist Liebe etwas Pulsierendes, Lebendiges, ähnlich wie unser Geist, der manchmal heiter und manchmal traurig gestimmt ist. Was wir Liebe nennen, sind letztlich nur Empfindungen, die wir im gegenwärtigen Augenblick haben. Liebe ist etwas Offenes, kein Gefängnis.



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