Lebensphasen by Unknown

Lebensphasen by Unknown

Autor:Unknown
Die sprache: eng
Format: epub
ISBN: 0000000000000
veröffentlicht: 2021-10-07T14:07:25+00:00


DIE UNGELEBTEN, AUSGEGRENZTEN TEILE UNSERES INNEREN

MF: Entscheidend ist es also, in der Lebensmitte Zugang zu seinem Inneren, zur Psyche zu finden. Wieso ist das dermaßen wichtig?

IR: Die Hauptthese C. G. Jungs bestand darin, dass man in der ersten Lebenshälfte eine Identität aufbaut, die er Persona nennt. Von ihr hängt es ab, welche Eigenschaften ein Mensch entwickelt, wie er sich in der Welt wahrnimmt und auch wahrgenommen wird und welche Rolle er einnimmt. Über diese äußere Persona findet er indirekt aber auch Zugang zu seinem Inneren. Denn eines Tages beginnt er, genau die Seiten zu vermissen und zu suchen, die eben dieser Persona bitter fehlen. Bei ihrer Entwicklung wurden andere, ebenfalls in uns angelegte Seiten ausgeblendet und nicht gelebt. C. G. Jung ist der Meinung, dass man mehr ist als diese Persona mit ihren ausgeprägten Eigenschaften, weil man auch andere Seiten habe, sie aber eingeschränkt und in den Schatten verwiesen habe. Besser gesagt: Wir werfen immer einen bestimmten Schatten, weil wir so dastehen, wie wir eben jetzt sind. Wir erscheinen im Licht mit unserer Persona. Durch die Betrachtung des Schattens, den unsere bewusste Persona auch wirft, können wir den ausgeblendeten Seiten unseres inneren Menschen auf die Spur kommen.

Eine sehr aufschlussreiche Frage ist dabei: Was hatten wir eigentlich davon, gerade diese Persona sein zu wollen und das, was nicht zu ihr passte, in den Schatten zu verweisen?

MF: Es geht um den ungelebten Teil in unserem bisherigen Leben. Können Sie dafür einige Beispiele geben?

IR: Das Konzept der Persona ist therapeutisch relevant, weil wir bei Menschen mit Depressionen und anderen Verstörungen immer danach fragen können, was es eigentlich genau war, das blockiert wurde und was nicht gelebt werden durfte. Der sogenannte Schatten ist für uns also nicht das Böse, sondern vor allem das Abgewehrte. Er ist speziell das, was ich nicht sein will. Ein gutes Beispiel ist eine Frau, die zu mir sagte: „Mütterlich will ich nicht werden, den Quatsch habe ich an meiner eigenen Mutter gesehen. Das ist mir bis zum Speien über, das will ich nicht werden.“ Und dann setze ich an, indem ich sie frage, was bei ihr fehle oder ungelebt sei. Und dann kommt plötzlich heraus, dass sie eigentlich das warme, gesunde Mütterliche, das ihr gutgetan hätte, überhaupt nicht kennengelernt hatte. Sie hatte eine vereinnahmende Mutter gehabt, die immer nur wollte, dass sie nach ihrer Pfeife tanzte. Das ist dann im Grunde keine Mutter. An diesem Punkt gilt es, das eigentliche Ganze hervorzuholen.

Eine andere Frau erzählte mir: „Ich bin mit meinem Beruf verheiratet, ich kann mir überhaupt keine tragende Beziehung vorstellen“. Sie fing aber an, gerade darunter zu leiden, und fiel in eine sanft beginnende, dann schwere Depression. In so einem Fall frage ich: „Was lehnen Sie denn eigentlich ab an einer Beziehung?“ Und dann kommt heraus, dass sie noch nie eine beglückende Beziehung erlebt hat und es sich auch nicht zutraut. In einer starken Abwehr steckt häufig auch eine heimliche Sehnsucht. Man holt also genau das aus der Person heraus, was zwar in ihr enthalten ist, aber bisher zu kurz kam, so dass man sich nicht zu einem ganzen Menschen entwickeln konnte.



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