Indiens verdrängte Wahrheit by Georg Blume Christoph Hein
Autor:Georg Blume, Christoph Hein
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783896844583
Herausgeber: edition Körber-Stiftung, Hamburg 2014
veröffentlicht: 2017-03-27T16:00:00+00:00
Kapitel 8:
Für immer arm? Die Bauern holen nicht auf
Devansh Sharma lässt eine Silbermünze durch seine Finger gleiten. Sie zeigt Edward V., 1911. »Mein Glücksbringer, mein Urgroßvater gab mir die Münze. Sie wird mich reich machen«, sagt der 28-jährige Großbauer im zentralindischen Bundesstaat Madhya Pradesh. Ein gutes Stück Weges zum Reichtum hat Sharma schon zurückgelegt. Geholfen hat ihm dabei ausgerechnet der deutsche Chemiekonzern BASF. Denn der lehrt indische Bauern, wie sie ihre Erträge durch den Einsatz von Agrochemie sprunghaft steigern können. Der Ernteertrag der geförderten Böden legte dank der Chemie schon im ersten Jahr um rund 40 Prozent zu.
Devansh steht am Rande seines Feldes, die Ray-Ban-Sonnenbrille auf der Nase. Stolz zählt er auf, dass er schon vier Geländewagen besitzt, eine Erntemaschine und einen Traktor von John Deere. Das nun sprudelnde Geld nutzt er, um den Kleinbauern weiteres Land abzukaufen. »In diesem Jahr waren es 43 Acre«, umgerechnet etwa 17,5 Hektar. »Das sind 15 Prozent unseres gesamten Besitzes«, sagt er. Und fügt hinzu, dass er nun auch ins Immobiliengeschäft vordringe.
Devansh hat viel Glück. Die Masse der indischen Bauern besitzt nur einen Bruchteil dessen, was er anhäuft. Denn der indische Agrarsektor ist geprägt von Kleinbauern und Lohnarbeitern. Bis heute leben gut 60 Prozent der Inder von der Landwirtschaft. Sie finden sich in jenen 93 Prozent der indischen Bevölkerung wieder, die laut einem Regierungsbericht entweder auf dem Land oder im informellen Sektor arbeiten – alle haben sie unsichere Arbeitsplätze, ohne Sozialversorgung und meist ohne ein ausreichendes Einkommen.
Der Agrarsektor trägt immer noch 17 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt Indiens bei. Während aber die Industrie zuletzt zwischen 7 und 9 Prozent und der Dienstleistungssektor sogar Jahr für Jahr zweistellig wuchsen, legte der Landbau nur rund 2,5 Prozent jährlich zu. Noch in den Jahren zwischen 1981 und 1991 war er im Durchschnitt um 3,3 Prozent jährlich gewachsen. Von da an fielen die Wachstumsraten.
2,5 Prozent Wachstum aber sind zu wenig, um Indien mit der zunehmenden Zahl seiner Menschen und den Ansprüchen seiner wachsenden Mittelschicht zu ernähren. Zu wenig, um ausreichend Arbeitsplätze zu schaffen. Dabei konnte sich Indien bis in die 1980er Jahre hinein noch selbst mit Getreide versorgen. Bis heute ist der Subkontinent der weltgrößte Milchproduzent und nach China der zweitgrößte Reisproduzent der Erde. Eigentlich müsste kein Hunger herrschen. Umso grausamer und unnötiger ist die weitverbreitete Unterernährung.
»Ungefähr 60 Prozent der Bevölkerung, über 620 Millionen Menschen, nehmen nicht genug Nahrung zu sich. Das zeigt die Pro-Kopf-Kalorienzufuhr«, erklärt die Ökonomin Jayati Ghosh. »Trotz des deutlichen wirtschaftlichen Fortschritts im letzten Jahrzehnt ist Indien die Heimat von rund 25 Prozent der hungernden Armen der Welt«, umreißt das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen die Lage im Land. »Obwohl das Land genug Nahrung für seine Menschen anbaut, bleiben Regionen mit Hunger. Nach Angaben der Regierung sind rund 43 Prozent der Kinder unter fünf Jahren unterernährt, mehr als die Hälfte der Schwangeren (…) leidet unter Blutarmut.« Selbst die Regierung, die wesentlich niedrigere Grenzwerte als die internationalen Organisationen ansetzt, schätzt, dass ein Drittel der Inder unter die Armutsgrenze fallen. Besonders peinlich ist den Beamten und Politikern, dass ausgerechnet das
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