Immer wieder im Sommer by Katharina Herzog

Autor:Katharina Herzog [Herzog, Katharina]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman, General, Contemporary, Fiction, Romance
ISBN: 9783644400290
Google: eEuFDQAAQBAJ
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2017-04-22T00:00:00+00:00

Anna

Ganz plötzlich hatte es angefangen zu schütten. Gerade als Anna sich überwunden hatte, einen zweiten Versuch zu unternehmen und noch einmal zum Kinderheim zu gehen, war das Gewitter losgegangen. Ihr schöner Plan, Jan die wenig glaubhafte Ausrede aufzutischen, ihr sei plötzlich eingefallen, woher sie sich kannten, war also erst einmal ins Wasser gefallen. Nun saß sie schon seit einer Stunde mit den Kindern und Max vor dem prasselnden Kaminfeuer und spielte Mensch ärgere dich nicht, während draußen vor dem Fenster dunkle Wolkenfetzen vorbeijagten.

Frieda hatte den ganzen Vormittag geschlafen. Ihr Ausflug hatte sie erschöpft, und als sie sich gegen Mittag zu ihnen gesellte, die Haare auf einer Seite plattgedrückt, konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Richtig ungehalten wurde sie, als Anna sie darauf ansprach, und obwohl es ihr schwerfiel, war sie nicht weiter in sie gedrungen. Schließlich würde auch sie ungehalten reagieren, wenn jemand behauptete, sie hätte am Morgen nackt mit Cheerleading-Pompons am Strand herumgetanzt.

«Und tschüs!», rief Nelly. Sie warf eine von Max’ Spielfiguren raus, und als sie eine Runde später mit ihrem letzten Männchen ins Zielfeld zog, schob Anna entschlossen ihren Stuhl zurück.

«Ich gehe spazieren.»

«Das warst du doch heute Morgen erst», sagte Sophie.

«Gibt es eine Regel, die besagt, dass man das nur ein Mal am Tag tun darf? Ich nehme den Hund mit. Er muss sowieso raus …» Und er eignet sich hervorragend als Eisbrecher, fügte Anna in Gedanken hinzu.

Sie ging in den Flur und zog sich ihre Wachsjacke über. Gerade als sie die Hundeleine an Hendriks Halsband gehakt hatte, erschienen Nelly und ihre Mutter.

«Wir kommen mit», sagte Nelly. «Oma sagt, dass sie mit mir in Pfützen springt.»

Nicht schon wieder! Doch mit welcher Begründung hätte sie ihnen das verbieten können? Unglücklich reichte sie Nelly ihren knallgelben Regenmantel mit den weißen Pünktchen und die roten Gummistiefel. Frieda zog ihren Anorak an, und gemeinsam brachen sie auf.

Nach dem Gewitter machte Nebel seinem Namen alle Ehre. Der Himmel war in einheitliches Grau getaucht und hing schwer über den windschiefen Reetdächern. Bei schönem Wetter luden hier die blumengeschmückten Gärten vieler Cafés und Restaurants zum Verweilen ein, aber jetzt glänzten Stühle und Bänke vor Nässe, und selbst die bunten Rosen ließen ihre Köpfe hängen. Sie durchquerten den Ort und kamen zu der reetgedeckten Windmühle, dem Wahrzeichen der Insel. Seit ihr Betrieb im Jahr 1964 eingestellt worden war, befand sich ein Heimatmuseum darin. Normalerweise standen ihre Flügel schräg, doch heute bildeten sie ein Kreuz, was bedeutete, dass in Nebel an diesem Tag eine Beerdigung stattfand. An der großen Kirche waren sie auf ihrem Weg zur Mühle ebenfalls vorbeigekommen. Anna dachte an die Inschriften der «erzählenden Grabsteine», die sie Nelly vorgelesen hatte. Darauf waren die Schicksale von Inselbewohnern aus dem 16. und 17. Jahrhundert festgehalten. Nelly war begeistert davon gewesen. Anna dagegen hatten die Familiengeschichten der Amrumer Walfänger und Kapitäne eher deprimiert, denn egal, wie glanzvoll ihr Leben verlaufen war – letztendlich hatte es sie alle an diesen Ort geführt.

Eine melancholische Stimmung herrschte auch auf dem Friedhof der Namenlosen, der sich direkt gegenüber der Windmühle befand. «Es ist noch eine Ruhe vorhanden», stand auf dem Balken des weiß gestrichenen Eingangstors.

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