Hexen by Mona Chollet

Hexen by Mona Chollet

Autor:Mona Chollet
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Edition Nautilus
veröffentlicht: 2020-10-15T00:00:00+00:00


3. Gipfelrausch.

Das Bild der »schrumpligen Alten« zerstören

Vor einigen Jahren aß ich mit meiner Freundin D. auf der Terrasse eines Restaurants zu Abend, dessen Tische zu eng aufgestellt waren. D. ist eine Art Gesprächsvirtuosin: leidenschaftlich, großzügig, einfühlsam, mit einer erstaunlichen, fast unbegrenzten Fähigkeit, zuzuhören. Im Eifer des Gesprächs und vielleicht auch, weil sie es gewohnt ist, von einem Podest aus zu Studierenden zu sprechen, vergisst sie leicht, ihr Stimmvolumen zu dämpfen. Das kann ein wenig peinlich sein, wenn sie, um besser zu verstehen, die neuesten Entwicklungen im Privatleben ihrer Gesprächspartnerin rekapituliert und damit deren Beziehungsprobleme dem scharfsinnigen Urteil einer Gruppe von Unbekannten vorlegt. An diesem Abend saß ein Paar am Nebentisch. Die Frau hielt sich knapp zehn Minuten zurück, bevor sie herausplatzte: »Mademoiselle, bitte! Das ist doch unmöglich! Man versteht sein eigenes Wort nicht mehr!« Meine Freundin entschuldigte sich sofort und vergrub dann kleinlaut ihre Nase im Teller. Doch ein paar Augenblicke später erhob sie ihr Gesicht und strahlte mich an. Mit glänzenden Augen flüsterte sie mir triumphierend zu: »Sie hat mich ›Mademoiselle‹ genannt!«

Ich verstehe genau, was sie sagen will. Wir sind beide knapp über vierzig, also in einer Phase unseres Lebens, in der wir – Intellektuelle in einer gefestigten beruflichen Lage, die keine mühsame Arbeit ausführen müssen, genügend Geld haben, um gesund zu essen, sich verwöhnen zu lassen und Sport zu treiben – noch berechtigt sind zu einigen dahingestreuten »Mademoiselles« inmitten der üblich gewordenen Anrede als »Madame«. Auch mir entgehen sie nicht. Wie sollte man sie auch überhören? Ein Mann wird ab achtzehn bis zu seinem Lebensende mit »Monsieur« angesprochen; aber für eine Frau gibt es zwangsläufig den Moment, in dem sich die Menschen, die ihr im Alltag begegnen, verbünden, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie nicht mehr jung aussieht. Ich erinnere mich, dass ich verdrossen und sogar gekränkt auf die ersten »Madames« reagiert habe. Ich war schockiert. Ich brauchte eine Zeit, um mich davon zu überzeugen, dass es keine Beleidigung ist und mein Wert nicht von meiner Jugendlichkeit abhängt. So sehr ich mich über Alix Girod de l’Ain lustig mache, wenn sie freimütig eingesteht, dass sie sich von ihrem Gemüsehändler gern mit »Mademoiselle« ansprechen lässt – auch ich hatte mich an das mit dieser Anrede verbundene kostbare Privileg gewöhnt, als jugendlich aussehende Frau zu gelten. Ohne dass es mir bewusst war, hatte es sich tief in meinem Selbstbild eingenistet, und es fiel mir schwer, darauf zu verzichten.

Etwas in mir sträubt sich, dieses Kapitel in Angriff zu nehmen. Ein Teil meiner selbst hat noch keine Lust, sich mit dem Thema des Alters zu befassen. Schließlich bin ich noch nicht einmal fünfundvierzig. Wie die amerikanische Schriftstellerin Cynthia Rich in den 1980er Jahren feststellte, »lernen wir sehr früh, stolz auf unseren Abstand – unserer Überlegenheit – gegenüber alten Frauen zu sein«.259 Gar nicht so leicht, sich das abzugewöhnen. Nach und nach wird mir bewusst, wie wenig ich bislang über die Vorurteile und Ängste nachgedacht habe, die mir das Alter einflößt. Oft sagt man, Älterwerden und Tod seien Tabus in unserer Gesellschaft; allerdings wird nur das Altern der Frauen vertuscht.



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