H wie Habicht by Helen Macdonald

H wie Habicht by Helen Macdonald

Autor:Helen Macdonald [Macdonald, Helen]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Sachbuch
Herausgeber: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
veröffentlicht: 2015-12-29T16:00:00+00:00


16

Regen

White baut eine Falle. Das ist nicht einfach, doch es gefällt ihm, wie dabei sein praktisches Denken auf die Probe gestellt wird. Er hat die Rinde einer Eschenrute entfernt und diese zu einem U gebogen. Daran hat er Gelenkstücke aus Leder angebracht und anschließend das Ganze mit zwei Meter Erdbeernetz bedeckt; auch die alten Falkenfänger hatten schon mit solchen reusenähnlichen Konstruktionen gearbeitet. Als Köder will White eine angebundene Amsel verwenden, um damit einen der Greifvögel in Three Parks Woods zu fangen. Oder es zumindest zu versuchen. Er hatte sie vor einem Monat das erste Mal gesehen und seitdem nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Sie waren so gar nicht wie Gos – sie waren klein, schnell, sichelflügelig. Richtige Kunstflieger. Flügelspitze an Flügelspitze waren sie in perfekt senkrechter Schräglage um einen Baum herumgejagt, genau wie die Flugzeuge um die Pylonen beim Hatfield-Wettfliegen. Ein Fliegertraum, ein Traum von der Zukunft. Er hebt die Leinenspule auf, mit der er das Netz über den Greifvogel ziehen will – und erinnert sich an einen alten Albtraum. Darin war er vor einer Bande von Schlägern geflohen; er war in ein Flugzeug gesprungen und hatte sich in die Sicherheit des Himmels gerettet. Doch auch dort hatte Gefahr gelauert: Ein Netz von Telegrafendrähten hatte ihm den Weg in die Freiheit versperrt. Er ist sich nicht sicher, was für Greifvögel das sind. Sicherlich keine Turmfalken. Wanderfalken wären zu schön, um wahr zu sein. Vielleicht sind es Sperber.

Es waren keine Sperber. Die Vögel in Three Parks Wood waren Baumfalken: kleine Zugfalken mit dunklem Kopfgefieder, rostroten Hosen und schmalen weißen Brauen. In den Dreißigerjahren waren diese Vögel sehr selten, heute kommen sie wieder häufiger vor. Sie fangen Insekten und kleinere Vögel in der Luft und können deshalb unmöglich mit einer am Boden angebundenen Amsel geködert werden. Doch White dachte, es seien Sperber, und baute sich im Wald ein Versteck aus Stangen und Ästen, viereinhalb Meter von der Falle entfernt, die er mit Erde und Blättern getarnt hatte. Er vernachlässigte Gos und wusste das auch. Seine neue Leidenschaft, sein »rauschhaftes El Dorado«99, waren die Sperber. Er redete sich ein, einen für Peter Low fangen zu müssen; der Junge, einst sein Schüler, hatte einen zahmen Sperber verloren. Er redete sich ein, er müsse die Sperber fangen, weil Gos keine Herausforderung mehr darstellte und er sich an etwas Schwierigerem beweisen müsse.

Ich glaube, Whites Versuch, die Greifvögel von Three Parks Wood einzufangen, war die letzte Prüfung für Gos: White benahm sich wie ein ängstlicher Mensch, dem es endlich gelungen war, die Liebe eines anderen Menschen zu gewinnen, der sich aber so unsicher war, ob er auf diese Liebe bauen könne, dass er beschloss, sich in jemand anderen zu verlieben. Für mich als Kind war sein Verhalten einfach unbegreiflich. »WARUM?«, heulte ich auf. »Warum hat er seinen Habicht aufgegeben? Ich könnte so etwas nie tun!« Meine Mutter putzte gerade den Badezimmerspiegel. Ich konnte ihr Gesicht darin sehen und dahinter mein eigenes, blass und voller Entrüstung. Ich hatte das Buch gerade zum ersten Mal gelesen. An der Stelle mit den Sperbern war ich so aufgebracht, dass ich nicht mehr weiterlesen konnte.



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